Über Sinn und Unsinn des Jobcoachings bei Bildungsträgern
Paul Ariés, der französische Sozialist und Wachstumsrücknahme-Aktivist hat es in der Talk-Show Paris – Berlin „Arbeit – Sinn des Lebens?“ auf den Punkt gebracht: „Wir kehren zurück zur Dienergesellschaft des 19. Jahrhunderts.“ Gemeint ist die massenhafte Verdingung unzureichend qualifizierter Menschen im prekären Niedriglohnsektor, der auch in Deutschland nicht einmal zur Lebenserhaltung ausreicht. Laut einer OECD-Studie sagt Paul Ariés, „werden wir im 21. Jahrhundert nur noch 20 Prozent qualifizierte und gut bezahlte Arbeitsplätze haben – die Ausbildungsberufe – und 80 Prozent nicht qualifizierte und schlecht bezahlte Arbeitsplätze – die sogenannten Hilfsberufe.“ Die meisten Menschen, die sich in Deutschland im Niedriglohnsektor verdingen, beziehen ergänzend ALG II. Ein Leben nicht nur in Armut, sondern auch in äußerster Entwürdigung ist häufig das Resultat. Denn die Erwerbsarbeit, das Einkommen und der Konsum stehen im Mittelpunkt unserer Gesellschaft. Sind diese drei Dinge nicht in ausreichendem Maße vorhanden, wandert man automatisch ab in die „Unterschicht“. Bei prekär beschäftigten Akademikern – die sich häufig auch weit unter ihrer Qualifikation verkaufen müssen – spricht man vom „akademischen Proletariat“. Dass das so ist, liegt daran, dass wir in unserer Gesellschaft Werte wie Freundschaft, Liebe, Nachbarschaftshilfe, ehrenamtliches Engagement, unentgeltliches Tätigkeitsein, Muße, Nichts-Tun, Faul-sein weit unter die Werte „Erwerbsarbeit, Einkommen, Konsum“ angesiedelt haben. Ohne diese drei obersten Werte ist alles andere nichts. Ein Angestellter, der sich neben seiner Erwerbsarbeit ehrenamtlich engagiert, ist hoch angesehen, erhält Wertschätzung. Eine Hartz-IV-Empfängerin, die sich ebenfalls ehrenamtlich engagiert, erhält diese Wertschätzung von der Gesellschaft oft nicht. Bei ihr wird – bewusst oder unbewusst -, impliziert, dass sie das nur tut, um nicht zuhause herumzusitzen, ja man erwartet es quasi von ihr, damit sie, die „Schmarotzerin“, die von Steuergeldern lebt, der Gesellschaft wenigstens etwas zurück gibt. Und hier beginnt die absolute Entwertung des Menschen, der ohne Erwerbsarbeit nicht nur Einkommen und Konsumstärke einbüßt, sondern mit dem Verlust des Arbeitsplatzes auch die gesellschaftliche Anerkennung und im schlimmsten Falle seine Würde verliert.
Hat eine ungelernte, eine wenig qualifizierte oder einfach „zu alte“ „Arbeitskraft“ nach oft langen, quälenden Bewerbungsbemühungen es geschafft, endlich einen prekären 450 EUR-Job zu erhalten, der nicht allzu selten 20 Wochenstunden umfasst, wird sie vom Jobcenter aufgefordert, sich weiter zu bewerben. Die ArbeitsvermittlerInnen im Jobcenter haben häufig jede Form von Realismus und Empathie eingebüßt. Das liegt vordergründig am Hamsterrad Jobcenter – einmal darin integriert -, ob als Arbeitsloser oder Angestellte – rudert man im System. Abweichler haben es im System Jobcenter schwer – sie werden von den Führungskräften zurechtgewiesen, gemobbt und wenn alles nichts hilft, entlassen – sind doch die meisten Arbeitsvermittler im Jobcenter selbst nur prekär beschäftigt. Unsere 450-EUR-Arbeitskraft muss nun also weiterhin den Einladungen des Jobcenters Folge leisten und ihre Bewerbungsbemühungen vorweisen. Haben diese nach ein paar Monaten noch immer nicht gefruchtet, wird sie – ob sie will oder nicht – in ein Bewerbungs- oder Aktivierungscenter geschickt, um die noch fehlenden 20 Stunden zur 40-Stunden-Woche aufzufüllen. Viele dieser Minijobber müssen jetzt zum x-ten Mal ihre Bewerbungsunterlagen durchchecken lassen. Denn dass bislang noch keine vernünftige, aus ALG-II herausführende Anstellung zustande kam, kann ja nur an individuellen Vermittlungshemmnissen liegen und eine davon sind immer erst einmal die unzureichenden Bewerbungsunterlagen.
In einem Gruppen- oder Einzelcoaching wird nun zum x-ten Mal der oft spärliche Lebenslauf – überwiegend bestehend aus Beschäftigungen auf dem zweiten Arbeitsmarkt und aus kurzfristigen Jobs in verschiedenen Gewerben – von hinten nach vorne und wieder zurück geschrieben – denn jeder Bewerbungscoach muss zeigen, dass er sein Geld auch wert ist. Anschreiben werden formuliert und Fotos geschossen – meistens von den Bewerbungscoachs selbst, denn der Bildungsträger muss Geld sparen – und schließlich wird auch noch die Online-Bewerbung erklärt. Denn es ist klar, dass sich heutzutage selbstverständlich auch ein Gastronomiemitarbeiter, eine Reinigungskraft, ein Bauhilfsarbeiter und Gabelstaplerfahrer um einen schlecht bezahlten Job online oder über ein Webportal bewerben muss. Dafür braucht es neben der Kenntnis ein Foto und Zeugnisse einzuscannen, auch die Befähigung Daten in ein PDF-Format umzuwandeln. Allein schon der Anspruch, dass sich Menschen um niedrigqualifizierte, schlecht bezahlte und prekäre Jobs online bewerben müssen, resultiert aus maßloser Arroganz und Geringschätzung sowie einem Mangel an Realitätsbezug den betroffenen Menschen gegenüber. Es versetzt diese Menschen – vor allem jene, die diesen Ansprüchen nicht gerecht werden können oder wollen – automatisch in den Rang von Paria – von Ausgestoßenen.
Das Aktivcenter dient ebenfalls dazu, Menschen, die nur einen Mini-Job ausüben, unter Druck zu setzen. Es wird automatisch unterstellt, dass diese Menschen nebenbei schwarz arbeiten und um dies zu verhindern, werden sie in das Aktivcenter zwangsverpflichtet, um die restliche Zeit einer 40-Stunden-Woche dort zu verbringen. Aktivcenter sind unterschiedlich aufgebaut – auch der Name wechselt. In der Regel geht es auch hier um Bewerbungsunterstützung oder um sinnlose Beschäftigung: Wie strukturiere ich meinen Tag? Wie erhalte ich mich gesund? Welche Sportarten gibt es? Wie ernähre ich mich richtig? Wie spare ich Strom? Keinen – oder nur einen Mini-Job zu haben -, gibt dem Souverän, dem Staat in unserem Lande, automatisch die Erlaubnis der Entmündigung. Ein Bewerbungs- und Aktivcenter, ein Coaching KANN eine sinnvolle und gute Sache sein, wenn Menschen sich entscheiden, diese Angebote FREIWILLIG anzunehmen. Wenn diese „Maßnahmen“ jedoch dazu dienen Druck und Zwang auszuüben, verlieren sie ihre Berechtigung.
Während jemand wie Uli Hoeneß, der Steuern in Millionenhöhe unterschlagen hat, sich jetzt in so einer Art Luxus-Gefängniszelle befindet, die er voraussichtlich noch vor Weihnachten verlassen kann, um dann nur noch die Nächte dort zu verbringen, verfolgt man die „kleinen Leute“ und stellt sie unter General-Verdacht, wenn sie sich ein paar Euros schwarz nebenher verdienen wollen/müssen. Eine Tat, die oft ein letzter Verzweiflungsakt ist, um aus der zermürbenden Mühle – Niedriglohn – ALG-II-Ergänzung – Bewerbungscenter/Aktvicenter – auszuscheren und sich minimalste Freiheitsrechte zu erwerben. Freiheit ist in unserem Land eine Sache des Geldes. Jemand, der erwerbsarbeitslos wird und in die Mühlen von Hartz IV gerät, verwirkt diese Bürgerrechte.
Die Verfolgung von Schwarzarbeitern in der sogenannten „Unterschicht“ und die Behandlung von Menschen wie die Verkäuferin „Emmely“ , die nach 31 Jahren ihren Job verlor, weil sie zwei liegengebliebene Pfandmarken für 1,30 Euro eingelöst hatte – weitere ähnliche Fälle lassen sich nachlesen auf: http://www.welt.de/wirtschaft/article10749587/Entlassung-wegen-Pfandbon-Diebstahls-rechtens.html#more-567 – erinnert an Victor Hugos meisterhaften Roman „Die Elenden“, in dem der hungrige Jean Valjean wegen des Diebstahls eines Brotes im ausgehenden 19. Jahrhundert zu 19 Jahren Galeerenstrafe verurteilt wurde und der auch nach Verbüßen seiner Haft weiter vom ehrgeizigen Polizisten Javet verfolgt wird. Müßig hier im Vergleich an die kriminellen Machenschaften vieler Banken zu erinnern, die bei drohendem Totalverlust nach Risikospekulationen wie selbstverständlich von unserer Regierung mit Hilfe von Steuergelder gerettet werden. Es ist selbstverständlich, dass die Bürger dieses Landes für diese Vergehen aufkommen und auch kritiklos akzeptieren, dass zockende Manager zwar entlassen werden – in der Regel aber mit so hohen Boni ausgestattet, dass sie weiterhin in Saus und Braus leben können und meistens schnell wieder einen neuen Job in diesem zweifelhaften Gewerbe finden.
Was also tun, wenn man als Jobcoach für einen Bildungsträger arbeitet, um das prekarisierte „Proletariat“ zu beraten und zu coachen? Weiter Fit-machen-fürs Hamsterrad oder nach Alternativen sinnen? Es ist merkwürdig, wie wenig die meisten Jobcoaches ihre Tätigkeit in Frage stellen. Dabei sind diese Menschen – wenn auch in der Regel Akademiker – genauso prekär beschäftigt, werden schlecht bezahlt und meistens auch noch schlecht behandelt wie die, die sie coachen sollen – wenn auch in einer anderen Gehaltsstufe. Denn bei den meisten sogenannten „Bildungsträgern“, die sich ausschließlich über die Jobcenter und Arbeitsagenturen – also wiederum von Steuergeldern – finanzieren, herrscht nicht gerade ein von Wertschätzung und gegenseitigen Respekt getragenes Betriebsklima. Viele der Jobcoachs, die hier arbeiten, sind ebenfalls Gestrandete, die sich von einem prekären Job zum nächsten hangeln und kaum noch eine Chance haben, etwas anderes auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Auch das prägt ein Betriebsklima! Wenn alle nämlich im gleichen Boot sitzen, es aber partout nicht begreifen wollen und einer versucht sich über den anderen zu erheben. Natürlich gibt es unter den Beratern eine große Anzahl gutwilliger Menschen, die wirklich helfen wollen. Solange die Beratung jedoch auf der unpolitischen, individuellen Schiene verbleibt, ist es um die Hilfe nicht gut bestellt. Der eine oder die andere Arbeitslose kann zwar zeitweise vermittelt werden, aber eine dauerhafte Lösung ist kaum jemals in Sicht. Es sind kurzfristige Lösungen, die allen ein „gutes Gefühl“ vermitteln sollen und die Illusion von Erfolg. Solange der Fokus auf das individuelle Einzelschicksal verbleibt, verliert man schnell das Maß für die gesellschaftliche Wirklichkeit aus den Augen. Und so ist es ja auch vorgesehen. Denn jeder, der mal für einen Bildungsträger oder im Jobcenter gearbeitet hat, weiß, wie schnell er oder sie in das System hinein gesogen wird – ganz nach Marx, denn auch hier bestimmt das Sein, das Bewusstsein. Erst wenn man „draußen“ ist, den nötigen Abstand hat, das Einzelschicksal sich mit den vielen anderen vermischt, kommt die politische Realität wieder ins Bewusstsein. Einige KollegInnen, die von dem Dilemma wissen, haben es sich angewöhnt in diesem Fall lieber zu „trösten“ oder über die allgemeine wirtschaftliche Lage mit dem Arbeitssuchenden zu resümieren und zu schimpfen – wollen sie sich nicht als Experten, sondern als Versteher der Situation outen. Beides führt den Arbeitslosen ebenfalls nicht aus seiner nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit. Kant hatte geschrieben: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Immanuel Kant – Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784)
Man kann nicht von allen Menschen (von vorneherein) Bildung, Reflektion, Aufgeklärtheit und Selbst-Verantwortung verlangen. Dazu sind unsere Erziehungs-, Bildungs- und Arbeitsbedingungen zu ungerecht verteilt. Und wieso muss das auch so sein? Wieso nähern wir uns einer Welt, in der nur noch Bildung – hohe, akademische Bildung (!) – Akzeptanz findet und alle anderen Formen des Arbeitens und Daseins ausgegrenzt werden? Wer bestimmt eigentlich, wie wir leben wollen? Mit Descartes Naturunterscheidung in die res cogitans (das denkende Ding) und in eine ausbeutbare, benutzbare Materie, die res extensa (das ausgedehnte Ding) begann bereits im 17. Jahrhundert die Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit, die wir bis in unsere Zeit bis ins kleinste Detail perfektioniert haben. Mit Descartes Sicht auf die Dinge, dass nämlich der Körper nichts enthält, was dem Geist zugerechnet werden kann und der Körper nichts, was dem Geist entspricht, entstand die strikte Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit und darüber hinaus – da die res extensa – nichts wert ist, sondern nur dazu dient, vom Menschen verbraucht zu werden – die Überbewertung des Geistes gegenüber der körperlichen Arbeit. Zeit also für einen Paradigmenwechsel. Und der beginnt zunächst mit der Erkenntnis, warum wir eigentlich so arbeiten, leben und denken, wie wir es derzeit tun. Wir tun so, als wäre das schon immer so gewesen. Als wäre die Gegenwart ein sich stetig verlängerndes, unveränderbares Gebilde, das nicht aus historischen Denk- und Handlungsmustern entstanden ist. Und wir vergessen, dass dieser Prozess – bei neueren Erkenntnissen – durchaus weiterentwickelt und auch revidiert werden kann.
Studien http://www.spiegel.de/politik/deutschland/studie-wie-die-parteien-nichtwaehler-umstimmen-koennen-a-905808.html belegen, dass die Wahlbeteiligung der Deutschen immer weniger wird. Natürlich wird das auch wieder an der Bildungsferne der Nichtwähler fest gemacht. Angeblich sei – trotz der abnehmenden Wahlbereitschaft – der überwiegende Teil der Deutschen mit der Politik der Bundeskanzlerin hoch zufrieden. Da fragt man sich: Wer wird da eigentlich befragt? Wenn ich mich im Bekanntenkreis, bei der Arbeit, auf der Straße, in der U-Bahn, beim Friseur, bei einer Taxifahrt umhöre, kann ich nicht einen einzigen Menschen ausmachen, der mit der Politik unserer derzeitigen Parteienlandschaft – egal, wer gerade das Ruder in der Hand hält – zufrieden ist. Die meisten Menschen gehen nur noch zur Wahl, weil sie sich noch nicht verabschieden wollen, nicht aber, weil sie eine Partei wählen, die tatsächlich auch nur im Entferntesten das Interesse der arbeitenden Bevölkerung vertritt. Und „Die Linke“ ist den meisten Menschen durch die jüngere Vergangenheit suspekt. Man nimmt von vorneherein das kleinere Übel in Kauf. Bewegen wir uns auf eine neue Form der „Monarchie“ zu, in der eine immer kleiner werdende, finanziell gut abgesicherte Schicht bestimmt, wo es lang geht? In der all die Menschen, die nicht gebildet sind oder trotz Bildung nicht den Einstieg in die „Wissensgesellschaft“ finden, zu Paria erklärt werden? Kehren wir – wie Paul Aries das sieht – zur Dienerschaft des 19. Jahrhunderts zurück?
In der akademischen Alternativ-Bürgerschicht gibt es ebenfalls Unmut über einen Arbeitsmarkt, der sich immer mehr als Sklavenmarkt entpuppt und auf dem sich keine gleichwertigen Individuen, die miteinander verhandeln (eine mögliche Definition von Markt) mehr tummeln, sondern nur noch Arbeitgeber, die aus einem Pool qualifizierter Arbeitnehmer diejenigen aussuchen, die am leichtesten und effektivsten erpressbar sind und sich mit wenig Salär bei hoher Leistungserbringung zufrieden geben. Aufgrund von Bildung, der Fähigkeit die Kräfte Selbstwirksamkeit und Resilienz zu aktivieren, sowie den hohen Grad an Vernetzungsfähigkeit mit Gleichgesinnten suchen und finden diese Menschen Alternativen zum Arbeits-Sklaven-Markt der Moderne- „steigen aus“ – und experimentieren in neuen Arbeits- und Lebensmodellen. Wie aber kann sich dieses Modell des „Aussteigens“ und Veränderns der herrschenden Verhältnisse durch Verweigerung und gleichzeitigem Aufbau eines alternativen Systems auf bildungsferne Menschen übertragen lassen? Was können wir Berater dazu beitragen?
Zunächst sollte in jeder Beratung die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit im Niedriglohngewerbe stehen. Bringt diese Tätigkeit Unabhängigkeit? Bringt sie Einkommen, das ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu bestreiten? Bringt sie Wertschätzung? Bringt sie Befriedigung der Bedürfnisse? Wenn diese Fragen mit Nein beantwortet werden, dann ist es an der Zeit, nach Alternativen Ausschau zu halten. Welche Alternativen haben Menschen der unteren Bildungsschichten sich jenseits der Erwerbsarbeit ein gutes Leben aufzubauen? Früher waren diese Menschen in der Lage sich zu vernetzen und gegenseitig zu unterstützen. Aktive Nachbarschaftshilfe nannte man das oder Freundschaftspflege, die zu anderen Zeiten auch immer etwas mit gegenseitiger Unterstützung zu tun hatte. Damals, als die Berufe noch etwas zählten – der Bäcker, der Schuster, die Blumenverkäuferin, der Fabrikarbeiter, die Köchin, der Gemüsehändler, die Schneiderin… Nach und nach wurden all diese Berufe wegrationalisiert und abgewertet. Das Brot wird maschinell hergestellt, so dass der Bäcker „nur“ noch eine Maschine bedienen muss. Kleidung wird in den Südländern unter schlechtesten Bedingungen in Fabriken produziert, damit wir uns hier ein T-Shirt für 5 EUR kaufen können. Die meisten Blumenläden werden von Vietnamesen betrieben, viele Imbissbuden sind Döner-Läden. Und hier wird es interessant. Die Blumengeschäfte und Dönerbuden werden von Menschen betrieben, die sich aufgrund ihrer anderen kulturellen Sozialisation anders organisieren. Vielleicht ist es an der Zeit einmal den Blick von der problemorientierten Integration dieser Menschen in unsere Arbeitsgesellschaft, den Zwangsmaßnahmen durch Jobcenter und Bildungsträger, um in etwas zu integrieren, in das nicht integriert werden kann, hinzuwenden auf das, was wir an positiven Lebensentwürfen von ihnen lernen könnten. Türkische, arabische, afrikanische und vietnamesische Menschen leben einen anderen Zusammenhalt vor. Wir nennen das auch Parallelwelten. Verändern wir doch mal unseren Blick und schauen auf das, was da an Positivem passiert. Hier gibt es weitreichende Familienbande, die sich gegenseitig unterstützen. Im Gemüseladen an der Ecke helfen in der Regel die Familienmitglieder, damit der Laden läuft. Wenn Ismail keinen Job findet, kann er bei Onkel Ahmet im Döner-Laden aushelfen oder in der Werkstatt von Schwager Said. Das ist eine Welt – wenn man mal von den problematischen patriarchalen Strukturen absieht -, die auch die Deutschen noch bis in die 50ziger Jahre hinein kannten. Wenn es auch nicht unbedingt die Familie war, dann wusste man aber, dass Otto der Klempner einsprang, wenn das Klo verstopft war und dafür Susanne, die Haare schnitt und Gustav aus der eigenen Fleischerei ein Paket Wurst mitbrachte. Warum haben wir es eigentlich zugelassen, dass uns diese Welt abhanden gekommen ist? Warum lassen wir zu, dass Millionen von Menschen ihre Berufe verlieren, sich ausgegrenzt fühlen und für einen Dumpinglohn als Diener herhalten müssen? Vielleicht ist es an der Zeit sich zu solidarisieren und voneinander zu lernen, anstatt sich gegenseitig auszugrenzen. Wenn sich die Politik nicht kümmert, müssen wir es selbst tun. Und das ist kein Vorrecht von Akademikern und Bürgerkindern! Wir müssen es nur wieder zulassen und „erlauben“, dass das Volk, die einfachen Menschen sich selbst organisieren und in Netzwerken zusammenschließen. Und wenn sie verlernt haben, wie es geht, dann kann man sie in Beratungen darin unterstützen, sich diese Fähigkeiten wieder anzueignen. Das ist mit Sicherheit produktiver und trägt mehr zur Integration bei, als Langzeitarbeitslose durch Sozialpädagogen und (selbsternannte) Jobcoachs in den prekären Niedriglohnsektor zu pressen und sie zu bestrafen, wenn es nicht klappt.
Eine fortschrittliche, zeitgemäße, politische Beratung unterstützt Menschen darin, sich ihrer Selbstwirksamkeit wieder bewusst zu werden, Resilienz aufzubauen, sich Netzwerke zu schaffen und sich darüber hinaus selbst zu organisieren – außerhalb des Mainstream-Arbeitsmarktes. Um das druckfrei vom Jobcenter tun zu können, kann und muss Beratung auch dazu dienen, Schlupflöcher aufzuzeigen, wie man sich relativ druckfrei durch das Jobcenter bewegen kann. Ehemalige prekär beschäftigte Arbeitsvermittler des Jobcenters wissen, wie es funktioniert! Das würde helfen, Menschen die nötigen Freiräume zur Selbstorganisation und Veränderung zu schaffen. Versuchen wir – die betroffenen Bürger dieses Landes – die Kopf- und Handarbeiter – doch gemeinsam an einer Veränderung zu arbeiten. Gemeinsam können wir es schaffen, eine menschenwürdige (Arbeits-)Gesellschaft aufzubauen, in der wir uns als kooperative, sich gegenseitig respektierende und unterstützende Menschen begreifen. Anstatt uns gegeneinander ausspielen und als verwertbares Schlachtvieh auf dem Sklavenmarkt verheizen zu lassen.
Zum Weiterlesen:
Brand Eins: Ausgabe 09/2014
Die Unsichtbaren
http://www.brandeins.de/archiv/2014/arbeit/dienstleistungsproletariat-einfache-dienstleistungen-interview-mit-philipp-staab-die-unsichtbaren.html
Zwölf Prozent der Arbeitnehmer gehören in Deutschland zum sogenannten Dienstleistungsproletariat. Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Philipp Staab über die Entwertung von Qualifikationen, fehlenden Berufsstolz und kleine Racheakte.
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Telepolis 28.11.2014
Hartz IV macht arm und depressiv
http://www.heise.de/tp/artikel/43/43445/1.html
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Werden Sie „Mitläufer“ – begleiten Sie arbeitslose Menschen zum Jobcenter. Bei der Initiative „Wir gehen mit“ – Die Mitläufer e.V. http://www.wirgehenmit.org können Sie die Position der Betroffenen stärken und selbst erfahren, wie es im Amt vor sich geht.
„Mitläufer begleiten Menschen zu Terminen bei der Agentur für Arbeit. Die Idee entstand beim Lesen eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Behandlung von Menschen bei der Agentur für Arbeit am Beispiel Johannes Ponader.
Darin hieß es über Menschen, die in Begleitung beim Amt erscheinen: „Wären es fünf bis zehn Prozent“, so ein Insider, „könnten wir einpacken“.
Wir sind die dazu fehlenden Menschen. Bringen wir das System der Ungerechtigkeit zum Wanken.“