Was wir aus der Geschichte lernen können
„Die zunehmend global adaptierten Machtstrategien und das verknüpfte Menschenbild hängen eng mit unserem inzwischen weltweit favorisierten materialistisch-mechanistischen Weltbild zusammen und dem Denken, das aus dem Geist des Machens resultiert und machtförmiges Handeln provoziert. Dieses Weltbild, in dem die Welt einem nach strengen Gesetzen ablaufenden materiellen Uhrwerk gleicht (das auch das Descartes-Newtonsche klassische Weltbild genannt wird) ist selbstverständlich nicht die eigentliche Ursache. Es ist selbst Ergebnis und Legitimation einer historischen Entwicklung, in der patriarchale Hierarchien und machtgreifende Organisationsstrategien sowie ein verengter Monotheismus mit der Abspaltung des Menschen aus dem Reich der Natur eine wichtige Rolle spielen. Die Strategien unbegrenzter Machbarkeit fußen jedoch auf der materialistisch-mechanistischen Präzisierung dieser Weltvorstellungen und der dadurch ermöglichten erfolgreichen wissenschaftlich-technischen Entwicklung unserer Zivilisation. Das dafür benötigte (beherrschbare) Verfügungswissen liefern primär die empirischen Wissenschaften, die sich im Rahmen dieses Weltbildes am Grundprinzip einer behaupteten kausalen Geschlossenheit der materiellen Welt als ‚Realität’ (dinglichen Wirklichkeit) orientieren und diese (besonders auch über die politischen, sozialen und ökonomischen Wissenschaften) auf alle Lebenszusammenhänge und -prozesse auf der Erde projizieren. Dies schlägt sich wiederum in Formen des Handelns nieder, deren Ergebnisse solche Realität auf kurze Sicht streng zu legitimieren scheinen.“
aus: Potsdamer Manifest, 2005 von Hans-Peter Dürr, J. Daniel Dahm und Rudolf zur Lippe
Wir wissen es alle und machen trotzdem immer so weiter. Wir wissen, dass wir uns immer mehr dem Point of no Return – nähern, dem Punkt, an dem die Klimaveränderung durch den menschlichen Eingriff nicht mehr rückgängig zu machen ist und Naturkatastrophen unvorstellbaren Ausmaßes auslösen wird. Wir wissen, dass wir uns der Erschöpfung der nicht erneuerbaren Energien in Lichtgeschwindigkeit nähern – dem Peak of Oil und dem Peak of Everthing. Das lässt uns aber nicht aus unseren Wohlstands- und Wachstumsträumen erwachen. Wir sehen Flüchtlingsströme aus Bürgerkriegsgebieten und klimaverwüsteten Gegenden auf uns zurasen – doch anstatt Abhilfe zu schaffen, machen wir die Grenzen dicht. Wir haben eine Seelenruhe bei all dem und glauben, dass wir in einer endlosen Gegenwart leben, in der es immer so weiter gehen wird – trotzalledem – vielleicht mit ein bisschen Veränderung – ein bisschen grünes Wachstum, ein bisschen nachhaltigen Konsum – ein bisschen Social-Business – aber ansonsten alles beim Alten – Wachstum und Konsumwohlstand für die globale Welt. Und wir zimmern uns eine Vergangenheit, die uns bestätigt auf dem rechten Weg zu sein – eine lineare, stetig dem Fortschritt dienende Vergangenheit, in der es keine Widersprüche gab, keine Stolpersteine und keine anderen Deutungen als die, die wir für die beste aller Deutungen halten. Aber wie war das eigentlich tatsächlich? Woher beziehen wir die Annahme über die Welt, wie wir sie sehen? Könnte es nicht auch anders gewesen sein? Vielschichtiger – breiter – eine Entwicklung, die mit unserer heutigen Zivilisation noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist?
Der Postwachstumsbewegung geht es nicht anders als der Quantenphysik. Beide neuen Denkrichtungen ernten in der Mehrheitsgesellschaft – insofern beide schon dort eingedrungen sein sollten – nichts als Kopfschütteln. Das dem so ist, dafür sorgen schon die Machthaber dieser Welt und ihre Lakaien – die immer weniger unterscheidbar werdenden Mainstream-Medien, die Volkes Weg und Ziel schreibend, mahnend begleiten. Die Gegenwart wird passend designt, damit sie in die Richtung passt, in die der Zug fahren soll – in einen ständig wachsenden globalen Konsum ohne Rücksicht auf Verluste. Um hier entgegenwirken zu können, eine andere Geschichte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen zu können, müssen wir innehalten, vom Zug abspringen und uns fragen: Woher kommen wir eigentlich? Woher nehmen wir die Gewissheit über den Zustand der Welt und über ihre scheinbare Alternativlosigkeit? Wir stehen heute am Beginn einer umwälzenden, epochalen Veränderung, die unser naturwissenschaftliches Weltbild auf den Kopf stellen wird. Noch dümpeln die Erkenntnisse aus der Quantenphysik vor sich hin, werden ignoriert so wie die Erkenntnis Nikolaus Kopernikus, der bereits 1543 wusste, dass die Sonne sich nicht um die Erde, sondern umgekehrt, die Erde um die Sonne dreht. Rund 200 Jahre und den 30jährigen Krieg brauchte es bis durch James Bradley im Jahre 1729 das heliozentrische Weltbild des Nikolaus Kopernikus physikalisch bewiesen werden und sich die neue Weltsicht breitenwirksam durchsetzen konnte. Auch das Wirtschaftssystem, dem wir heute anhängen, steht vor der gleichen großen Veränderung wie am Übergang vom Merkantilismus zur Nationalökonomie eines Adam Smith; vom Übergang der Landwirtschaft zur Industriegesellschaft im 18. Jahrhundert. Und eine dritte Veränderung, der wir beiwohnen, ist der Übergang vom Holozän zum Anthropozän – einer Epoche, in der erstmals der Mensch einen wichtigen Einfluss auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf dem Planeten Erde nimmt. Fast 2000 Jahre hat es gedauert bis das aristotelische Weltbild, das die Erde als unverrückbaren Mittelpunkt des Universums ansah, durch die naturwissenschaftliche Sicht der Neuzeit abgelöst wurde. Seit vier Jahrhunderten nun glauben wir an das, was die Aufklärung des 17. Jahrhunderts mit ihren Vertretern René Descartes und Isaac Newton als mechanistisches Weltbild entwickelt haben. Obwohl wir in Anbetracht der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen durch uns Menschen, dieses Weltbild längst hätten in Frage stellen müssen, halten wir unbeirrbar daran fest. Dass dem so ist, liegt an der „tiefen Industrialisierung unserer mentalen Infrastrukturen“ (Harald Welzer). Durch diese sind wir – von der Verkäuferin bis zum Finanzspekulanten – kollektiv in unserem Denken von den Erkenntnissen, die im 17. Jahrhundert ihren Anfang nahmen, durchdrungen. Was genau das jedoch bedeutet, darauf könnte heute wohl kaum jemand eine Antwort geben. Auch unser Wirtschaftssystem ist stark geprägt von diesem alten mechanistischen Denksystem. Der immer wieder zitierte Theoretiker der freien Märkte – Adam Smith – war stark beeinflusst von Newton und Descartes und baute seine wirtschaftswissenschaftliche Theorien auf deren Erkenntnisse. Andererseits war er ein zutiefst humanistisch-denkender Mensch, deren erste Abhandlung „Die Theorie der ethischen Gefühle“ erst die Voraussetzung für sein späteres Werk „Der Wohlstand der Nationen“ schaffte. Es ist also an der Zeit, sich der Herkunft dieses, unseres heutigen Denkens wieder bewusst zu machen, um aus dem Fluss einer scheinbar immer währenden „naturgegebenen“ Gegenwart herauszutreten.
Im NLP würde man vom „chunken“ sprechen. Chunken bedeutet die Verkürzungen in unserem Denken wieder in die richtige Größenordnung zu setzen und sich bewusst zu machen, wo dieses Denken eigentlich ihren Ursprung nahm. Abstrakte Themen, die wir auf eine Alltagsebene reduziert haben, werden wieder auf ihre Entstehung zurückgeführt. Dadurch kann eine neue Basis der Verständigung ermöglicht werden, um andere Perspektiven einnehmen zu können und uns für die notwendige Veränderungsarbeit zu öffnen. Erst wenn uns der Ursprung dieses Denkens und unserer Annahmen über die Welt bewusst und bekannt sind, sind wir in der Lage sie zu verändern. Solange nur noch die kleinen Denkeinheiten der einst größeren Zusammenhänge unser alltägliches Handeln und unsere wirtschafts-politischen Entscheidungen bestimmen, bekommen wir gar nicht mit, welchem Irrglauben über die Welt wir alltäglich aufliegen. Die Postwachstumsbewegung spricht gerne von der großen Transformation, die es zu bewältigen gilt. Skeptiker werfen ein, dass es vermessen sei zu denken, dass eine Generation es schaffen würde, diese Transformation bewusst zu gestalten. Aber natürlich können wie unsere kleinen Beiträge dazu leisten, die Weichen stellen für eine Transformation by Design. Und wir haben die einmalige Chance aus der Geschichte zu lernen, indem wir uns die erste große Transformation, die im 16. Jahrhundert begann, einmal genauer ansehen. Damals wie heute waren die erneuernden Ideen längst vorhanden, dennoch kämpfte die sterbende Großmacht mit all ihrer gebotenen Kraft für ihren Erhalt: Gerade in der Zeit, als das alte System zu kippen begann, lief die Inquisition auf Hochtouren, wurden Andersdenkende und Erneuerer gnadenlos verfolgt und es kam schließlich zum alles vernichtenden 30-jährigen Krieg – eine Transformation by Desaster, bevor das Design endlich beginnen konnte.
Begeben wir uns also auf eine kleine Zeitreise – in das Jahrhundert, in dem unsere moderne Wissenschaft, der Kapitalismus und die Globalisierung ihren Ausgang nahmen. (Die folgenden Ideen sind an einer Arte-Dokumentation von 2012 angelehnt) Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich mitten im 16. Jahrhundert – genau genommen – im Jahre 1572 – als ein junger Däne namens Tycho Brahe mit 26 Jahren die Geburt eines Sterns im Sternbild der Kassiopeia beobachtet. Das war zu dieser Zeit sensationell, denn es widersprach der damaligen noch von Aristoteles geprägten mittelalterlichen Weltsicht. Demnach bestand der Himmel aus einer unveränderbaren Konstante, einer Kristallsphäre, in der die Planeten in transparenten, undurchdringlichen Schalen an Ort und Stelle gehalten wurden. Was Tycho Brahe dort entdeckt hatte, konnte also gar nicht sein. Das war ungefähr so, als würden Sie in den Himmel schauen und dort plötzlich ein UFO kreisen sehen. Wir glauben nicht an UFOS und die Zeitgenossen von Tycho Brahe waren fest davon überzeugt, dass es am Himmel nie und nimmer irgendwelche Veränderungen geben könne. Zwar hatte Nikolaus Kopernikus bereits erforscht, dass sich in Wahrheit die Planeten – darunter auch die Erde – um die Sonne drehen und nicht wie in seiner Zeit angenommen, die Erde der Mittelpunkt des Universums ist, diese Erkenntnis hatte aber solch revolutionäre Sprengkraft, dass er die Ergebnisse seiner Forschungen erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1543 veröffentlichte. Tycho Brahe konnte also das, was er sah, gar nicht in Worte fassen – ähnlich wie die Pioniere der Quantenphysik das unfassbar neue, das in völligem Gegenteil zu den Erkenntnissen auf denen unsere moderne Wissenschaft noch immer fußt, nicht in einen Sinnzusammenhang bringen konnten.
Auch im 16. Jahrhundert gab es Menschen, die sich mit den Gegebenheiten der herrschenden Weltsicht nicht zufrieden geben wollten. Es waren neugierige Menschen, die beobachteten, ausprobierten, diskutierten. Forschungsgelder, wie wir sie heute kennen, gab es zu der Zeit noch nicht. Wer hätte sie Tycho Brahe auch geben sollen? Die größte Macht auf Erden – die Kirche – sicher nicht. Was Tycho Brahe da beobachtet hatte, erschütterte das Weltbild der Kirche und deren Macht in ihrem Fundament. Doch Tycho Brahe hatte Glück. König Frederick II. von Dänemark und Norwegen – ein aufgeklärter Mensch, der die Arbeit Brahes interessiert beobachtete, sponserte den jungen Entdecker und finanzierte ihm die Sternwarten Uraniborg und Stjerneborg auf der damals noch dänischen Öresundinsel Ven vor Landskrona, an denen Brahe 21 Jahre lang forschen konnte. Erst sehr viel später konnte auch physikalisch nachgewiesen werden, dass Tycho Brahe eine Supernova entdeckt hatte. Dafür gab es aber in jener Zeit weder ein Wort noch das Vorstellungsvermögen.
Neben Tycho Brahe lebten im 16. Jahrhundert andere Wissenschaftler, die ähnliche Dinge beobachteten und erforschten. Giordano Bruno, ein begeisterter Anhänger von Kopernikus reiste durch Europa und verbreitete enthusiastisch das neue Weltbild, nachdem die Erde selbst es ist, die sich um die Sonne dreht. In einem Buch schreibt er seine Erkenntnisse nieder und schickt sie Tycho Brahe. Er ist davon überzeugt, dass es ein unendliches Universum gibt, das noch andere Sonnensysteme umfasst. Das findet die Kirche nun gar nicht spaßig und wirft ihn kurzer Hand in den Kerker, in dem er acht Jahre verbringen soll, bevor er im Jahre 1600 auf dem Scheiterhaufen in Rom verbrannt wird. Heute werden zwar keine Menschen mehr verbrannt, wenn sie neue physikalische Erkenntnisse gewinnen – zum Beispiel jene von der Quantenphysik, die diametral zum im 16. Jahrhundert entstehenden mechanistischen Weltbild steht – , aber sie ernten – neben Ignoranz – einen Sturm der Entrüstung. Die Erde als organisches, ganzheitliches, ökologisches, sich selbstreplizierendes System (Fritjof Capra) – was soll das sein? Oder eine Welt ohne Wirtschaftswachstum! Lachhaft, widernatürlich! Werden mit solchen Annahmen doch die Grundfesten unserer Welt, einer auf Wachstum und Versachlichung der Natur basierenden Ordnung, erschüttert. Während also Bruno im Kerker schmort, sah es auch für Tycho Brahe nicht rosig aus. Als sein Gönner stirbt, besteigt der orthodoxe Lutheraner Christian IV den Thron und Brahe muss Dänemark verlassen. Im Prager Exil trifft er auf den jungen Mathematiker Johannes Kepler, der von Platons Hypothese einer Verbindung zwischen Irdischen und Göttlichen begeistert ist und eine göttlich mathematische Ordnung in der Natur aufzeigen will. Kepler war aus Österreich geflohen, wo sich Katholiken und Protestanten bereits offen bekriegten – die Welt war in Bewegung geraten – ähnlich wie in der Gegenwart, in der allerorten Bürger- und Religionskriege toben, die wir im wirtschaftlich reichen Norden noch aus der Ferne beobachten. In Prag herrschte der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs – Rudolf II. -, der als Förderer für Kunst und Wissenschaft bekannt war. Dadurch bestimmte ein offenes, tolerantes Klima die Stadt – das jedoch bald durch den Ausbruch des 30jährigen Krieges im Jahre 1618 zunichte gemacht werden sollte. Kepler wird Brahes Assistent. Nach dem Tod Brahes im Jahre 1601 setzt Kepler seine Arbeit fort. Er errechnet, dass die Ellipse die Bewegung ist, die zu Brahes Messungen passen. Damit rückt die Erde endgültig aus dem Zentrum heraus. Im Jahre 1609 fasst Kepler seine Erkenntnisse in drei mathematische Gesetze zusammen, die seitdem unter den Begriff „Keplersche Gesetze„ bekannt sind. Etwa zur gleichen Zeit stellte Galileo Galilei fest, dass die Drehungen der Erde um ihre Achse und um die Sonne die Ursache für die Gezeiten waren. Damit glaubte er einen Beweis für das kopernikanische Weltbild in den Händen zu halten. Der Widerstand der Kirche wuchs. Galilei muss sich vor der Inquisition erklären.
Mittlerweile hatte sich der Streit zwischen Katholiken und Protestanten ausgeweitet und 1618 beginnt ein Krieg, der 30 Jahre umfassen sollte. Es war ein Krieg, der sich aus vielen kleinen und größeren Kriegszügen zusammensetzte. Historiker sprechen von drei Konfliktebenen, die sich gegenseitig durchdrangen und überlagerten: Auf der einen Seite der religiöse Konflikt, der sich nicht nur zwischen Protestanten und Katholiken entfachte, sondern auch zwischen all den kleinen Splittergruppen – den Bewahrern und Erneuerern – den Interpreten der Heiligen Schrift. Der zweite Konflikt war ein machtpolitischer, der Konflikt um die Reichsverfassung und um den Erhalt der Kirche, die man notfalls mit Gewalt wieder herzustellen suchte. Die dritte Konfliktebene war auf komplexe Weise mit den anderen beiden verwoben: Es ging um den Kampf um die europäische Vorherrschaft. Die Auseinandersetzung tobte zwischen den europäischen Mächten und Herrschaftshäusern und den vielen anderen Länder und Fürstentümer, die in diesen Konflikt hineingezogen wurden. Als der Krieg 1648 mit den Westfälischen Friedensverträgen endete, gab es keine Sieger. Dafür aber war Europa verwüstet. Acht Millionen Menschen starben in dieser Zeit. Mit dem Westfälischen Frieden, der aus lauter kleinen Verträgen bestand und rund fünf Verhandlungsjahre dauerte, wurde ein Kompromiss zwischen allen beteiligten Parteien geschlossen. Die totale Erschöpfung der Ressourcen und die allgemeine Kriegsmüdigkeit hatten schließlich zum Ende geführt und bildeten die Grundlage zu einer europäischen Friedensordnung gleichberechtigter Staaten und Konfessionen. Europa wurde tolerant, das Weltbild des Aristoteles wurde zugunsten eines auf Empirie beruhenden aufgegeben.
Die drei Männer, die bis in die Gegenwart hinein unser Denken und unseren Umgang mit der Natur geprägt haben, sind René Descartes (1596 – 1650), Isaac Newton (1642 – 1726) und Adam Smith ((1723-1790). Alle drei waren hervorragende Denker, die für das Weltbild, das mit Kopernikus seinen Anfang nahm, die wissenschaftlichen Grundlagen schufen.
René Descartes Schaffensperiode lag mitten im 30jährigen Krieg. In dieser alle Werte in Frage stellenden Zeit, entwickelte er seine durch den radikalen Zweifel geprägte Philosophie. Descartes begann alles, was er sah, dachte, fühlte in Frage zu stellen und strebte eine Philosophie der absoluten Gewissheit an, die über jeden Zweifel erhaben ist und deren Wahrheitsgehalt so gewiss ist, wie die mathematische Aussage, dass 2 x 2 = 4 ist. Auf diesem festen Fundament sollten dann alle anderen Wissenschaften aufbauen. Die einzige Wahrheit, die Descartes ohne Zweifel als unumstößlich galt, bestand in der Eigenschaft des Denkens an sich. Da der Vorgang des Denkens aber nur möglich ist, wenn das denkende Subjekt – der Mensch – existiert, bildete Descartes den legendären Satz, der den Anfang seiner philosophischen Überlegungen prägte: „Cogito, ergo sum – Ich denke, also bin ich.“ Obwohl der Ursprung seiner Fragetechnik noch tief in der Scholastik ruht, ist sein Denken revolutionär und bringt ihm eine Menge Ärger mit der Kirche ein. Mehrmals kommt es vor, dass er Schriften nicht zu Ende bringt oder die Veröffentlichung verhindert, aus Angst vor der Inquisition. Auch sein unstetes Leben – zunächst als Kriegssöldner – später durch häufige Wechsel zwischen Frankreich und den Niederlanden – dienten dazu, der Inquisition aus dem Weg zu gehen. In seinem Gedankengebäude rutscht Gott als der Schöpfer nach und nach aus dem Mittelpunkt und macht Platz für den Menschen, der sein Wissen aus sich selbst heraus gewinnt. Seine „Zwei-Substanzen-Lehre“ wird für die Neuzeit allerdings verhängnisvoll. Unter Substanzen versteht Descartes zwei selbständig existierende Systeme – das Innen und das Außen -, die einander nicht berühren. Die RES COGITANS – das denkende Etwas – ist die Substanz, aus der unser Bewusstsein oder die Seele gemacht ist. Die RES EXTENSA – das ausgedehnte Etwas – ist all das, was außerhalb des menschlichen Bewusstseins existiert: das Materielle, die Natur, die Rohstoffe, Tiere und Pflanzen. Descartes Materiebegriff reduziert das Wesen materieller Körper allein auf ihre räumliche Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe. Denn nur diese Ausdehnung ist klar und deutlich vorstellbar, wogegen andere Eigenschaften wie Härte, Gewicht oder Farbe nur auf Sinneswahrnehmungen beruhen, denen als Erkenntnisquelle grundsätzlich zu misstrauen ist. Beide Substanzen sind voneinander getrennt und existieren völlig unabhängig. Da die „Dinge“ der RES EXTENSA keine Seele haben, also über kein Denken, Wissen und Empfinden verfügen, können sie als Sache deklariert und behandelt werden. Sie funktionieren mechanisch wie eine Maschine und können deshalb für den Menschen konsequent nutzbar gemacht und ausgebeutet werden. Die Natur ist nach der 2-Substanzen-Lehre ein reiner Rohstoff, den man ohne Bedenken verwenden und verbrauchen kann. Somit beginnt mit Descartes die Zeit der Naturwissenschaften, der Technik und der grenzenlosen Ausbeutung der Natur und ihrer Rohstoffe – ohne jeglicher ethischer oder religiöser Bedenken. Alles, was zur Verfügung steht, kann verwertet werden. Mit der Enttabuisierung der Natur setzt der enorme Fortschritt ein, der uns unseren Lebensstandard gebracht und gleichzeitig unsere Welt an den Rand des Kollaps gebracht hat. Bis 1990 wurde die Verletzung eines Tieres als bloße Sachbeschädigung im Deutschen Gesetzbuch behandelt. Nur durch die Absprechung der RES EXTENSA von jeglichem Bewusstsein und Empfinden ist die moderne Massentierhaltung und die Ausbeutung der Natur und ihrer Rohstoffe möglich. Als Descartes 1649 stirbt, setzt die Kirche seine Schriften auf die verbotene Liste.
Isaac Newton, der Begründer der modernen Wissenschaft, wurde acht Jahre vor Descartes Tod geboren. „Sie können den ganzen Newton aus jedem Deutschlehrer, aus jeden Börsenmakler und jeder Gärtnerin heraus fragen, weil er uns allen in den Knochen sitzt.“ ( Zitat aus: Natalie Knapp „Der Quantensprung des Denkens – Was wir von der modernen Physik lernen können“) Die Frage lautet also, was sitzt uns denn da so tief in den Knochen, dass wir dem in Wissenschaft und Alltag noch immer unhinterfragt folgen? Newton gilt als einer der größten Denker der wissenschaftlichen Revolution und gleichzeitig als der letzte Magier seiner Zeit. Seine Philosophiae Naturalis Principia Mathematica wurde zum Standardwerk der modernen Wissenschaft. In ihm beschrieb er das Gesetz der Schwerkraft, in dem er die Forschungen Galileos und Kepplers zu einer einheitlichen Theorie der Gravitation vereinte. Damit wurde der Grundstein der klassischen Mechanik und den Bewegungsgesetzen gelegt. Gleichzeitig finden sich hier bereits seine Konzepte von der absoluten Zeit und dem absoluten Raum – und damit die Begründung des Determinismus, der das naturwissenschaftliche Weltbild der Neuzeit bis zu Einsteins Relativitätstheorie und der Quantenphysik prägen sollte. Newton war aber auch fasziniert von der Alchemie und dem Okkulten und in seinem Wesen ein tiefreligiöser Mensch. Für ihn war Gott durchaus noch eine Konstante, der im Anbeginn die Welt erschaffen hat. Der Raum – das Universum – war für ihn ein absoluter, der immer gleich und unbeweglich blieb. Alle Veränderungen in ihm wurden in einer getrennten Dimension – der Zeit – beschrieben. Die Zeit war ebenfalls absolut und hatte keinerlei Verbindung zum Raum. So wie Descartes die Trennung zwischen dem Bewusstsein und der unbelebten Materie vollzog, so führte Newton die Trennung zwischen Raum und Zeit ein. Nach Newton hat Gott am Anfang die Masseteilchen, die Energie zwischen ihnen und die Gesetze der Bewegung erschaffen. Nach diesem Prinzip wurde das ganze Universum in Bewegung gesetzt und läuft seitdem wie eine Maschine, gelenkt von unabänderlichen Gesetzen. Dieser mechanistischen, kosmischen Maschinerie liegt ein strenger Determinismus von Ursache und Wirkung zugrunde. „Dieses Bild einer vollkommenen Weltmaschine erforderte einen außerhalb stehenden Schöpfer, einen monarchischen Gott, der die Welt von oben regiert, indem er ihr seine göttlichen Gesetze auferlegt. Die physikalischen Vorgänge selbst galten nicht als göttlich, und als die Wissenschaft es zunehmend schwieriger machte, an einen solchen Gott zu glauben, verschwand das Göttliche vollkommen aus der wissenschaftlichen Weltanschauung und ließ jenes spirituelle Vakuum zurück, das so charakteristisch für den Hauptstrom unserer Kultur geworden ist. Philosophische Grundlage dieser Säkularisierung der Natur war die kartesianische Spaltung von Geist und Materie. Als Folge dieser Spaltung hielt man die Welt für ein mechanistisches System, das objektiv beschrieben werden konnte, ohne dass der menschliche Beobachter je erwähnt wurde. Eine derart objektive Beschreibung der Natur wurde zum Ideal der gesamten Naturwissenschaft. …. Das Bild von der Welt als einer vollkommenen Maschine, das von Descartes eingeführt worden war, galt jetzt als bewiesene Tatsache, und Newton wurde sein Symbol.“ (aus: Fritjof Capra, „Wendezeit – Bausteine für ein neues Weltbild“ (1983), Die newtonsche Weltmaschine). Durch die Methode, die Newton entwickelt hatte, wurde das Wissen jedermann zugänglich gemacht. Das Aneignen von „Wissen“ geschah nicht mehr durch blinden Glauben und dem Studium der Schriften, sondern konnte durch Beobachtung, durch Empirie erlangt werden. Ab jetzt musste ein Forschungsergebnis jederzeit wiederholbar sein, um in ihm eine objektive Wahrheit erkennen zu können. Die philosophisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse von Descartes und Newton führten dazu, dass es zur Trennung der Wissenschaften in die einzelnen Diszipline kam. Ziel war es jetzt, die naturwissenschaftlich-messbare Methode auf alle Wissenschaften zu übertragen. Die Analyse basierte auf der Zerlegung des zu untersuchenden Gegenstandes in seine Einzelteile, in denen man Wahrheit und Erkenntnis zu finden hoffte. Erst seit ein paar Jahrzehnten versucht man durch Interdisziplinarität, die verstreuten Wissenschaften wieder zur Zusammenarbeit und damit zu einem systemischen Erkenntnisgewinn zu bewegen, etwas, was von einigen Zeitgenossen noch immer kritisiert wird.
Auch auf Adam Smith (1723-1790), der drei Jahre vor Newtons Tod geboren wurde, wird heute noch immer gern zurückgegriffen. Vor allem wenn es den Wirtschaftsliberalen um die Begründung einer schrankenlosen Marktwirtschaft und dem egoistischen Trieb des Menschen geht, einer Tatsache, die angeblich psychologisch und evolutionsgeschichtlich bewiesen ist. Adam Smiths Wirtschaftlehre, die in seinem Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ (1776) bis heute die Wirtschaftswissenschaft prägt, fußt auf der einen Seite auf dem naturwissenschaftlichen Weltbild Descartes und Newtons. Auf der anderen Seite war Adam zutiefst vom Humanismus und dem Gedanken der Aufklärung geprägt. Mit seinem Freund David Hume wollte er eine Philosophie entwickeln, die basierend auf den Erkenntnissen der Naturwissenschaft die Grundprinzipien menschlichen Handelns und darüber hinaus die Grundprinzipien der Gesellschaftsformen und des historischen Wandels erklärt. Lange bevor sein „Der Wohlstand der Nationen“ entstand, schrieb er die „Theorie der ethischen Gefühle“, in der er sich ausgiebig mit der menschlichen Natur und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft befasste. David Hume hatte das Handeln des Menschen in den Vordergrund seiner Untersuchungen gestellt. Ebenso wie Smith wollte er eine Anleitung zum Handeln geben, das gesellschaftsverbessernd wirken sollte. Dazu beobachtete er das menschliche Verhalten und Denken und bezog – wie Smith – seine Erkenntnisse auch über die Studien der Anatomie und der Erkenntnisse der Medizin. Nach seinem Verständnis basierten die Sichtweisen der Menschen lediglich auf Gewohnheiten, weshalb er empfahl, die eigenen Wahrnehmungen innerhalb und außerhalb der Wissenschaften sehr genau zu prüfen. Ein erstaunlich aktueller Gedanke. Mit Adam Smith zusammen entwirft er ein Menschenbild, das diametral zu dem von Thomas Hobbes im 1651 erschienenen „Leviathan“ steht. Hobbes hatte den Menschen als einen im Urzustand konkurrierenden, von Eigennutz getriebenen beschrieben, der nur durch gesetzliche Schranken und Kontrolle im Zaum gehalten werden könne. Hobbes war stark vom Englischen Bürgerkrieg (1642 – 1649) beeinflusst, der zahllose Opfer forderte und eine wüste Zerstörung hinterließ. Smith setzte dem etwas entgegen, in dem er in seinem Werk ein Menschenbild beschreibt, das von Empathie und Nächstenliebe geprägt ist. Sein „Wohlstand der Nationen“ kann ohne dieses bedeutende Vorgängerbuch gar nicht umfassend verstanden werden. Das „Spiel der Freien Marktkräfte“ setzt Smith idealistisches Menschenbild voraus und nicht das eines Thomas Hobbes. Sein Egoismusbegriff ist ein anderer als der von Hobbes und würde heute womöglich eher unter den Begriff der „Selbstverwirklichung“ fallen. Seine Ökonomie und die theoretische Auseinandersetzung mit der Rolle der Arbeitsteilung, des freien Marktes, der Verteilung, des Außenhandels und der Rolle des Staates geht vom idealen Menschentypus aus, der von Sympathie und Empathie getrieben, die Arbeit als Triebfeder seiner Entfaltung sieht. Wenn Smith davon spricht, dass das gesellschaftliche Glück dadurch maximiert werden kann, wenn jedes einzelne Individuum sein persönliches Glück zu erhöhen sucht, dann impliziert das seine Moralphilosophie, die dem Gewissen einen hohen Stellenwert einräumt. Das Gewissen unterliegt jenem „inneren Richter“, der jede Handlung danach befragt, ob sie gesellschaftlich anerkannt und legitimierbar sei.
„…..Wenn unsere passiven Gefühle fast immer so gemein und egoistisch sind, wie kommt es, daß die Prinzipien, die unser Handeln bestimmen, oft so edelmütig und vornehm sind? Wenn uns immer alles das, was uns selbst betrifft, um so viel tiefer berührt als alles das, was andere betrifft, was ist es dann, was den Edelmütigen in allen Fällen; den niedrig Denkenden wenigstens manchmal fähig macht, seine eigenen Interessen den größeren Interessen anderer zu opfern? Es ist nicht die sanfte Gewalt der Menschlichkeit, es ist nicht jener schwache Funke von Wohlwollen, den die Natur im menschlichen Herzen entzündet hat, die derart imstande wären, den stärksten Antrieben der Selbstliebe entgegenzuwirken. Es ist eine stärkere Gewalt, ein zwingenderer Beweggrund, der sich in solchen Fällen äußert. Es ist Vernunft, Grundsatz, Gewissen, es ist der Inwohner unserer Brust, der innere Mensch, der große Richter und Schiedsherr über unser Verhalten. Er ist es, der uns, so oft wir im Begriffe stehen, so zu handeln, daß wir die Glückseligkeit anderer in Mitleidenschaft ziehen, mit einer Stimme, die imstande ist, unsere vermessensten Leidenschaften in Bestürzung zu versetzen, zuruft, daß wir nur einer aus der Menge sind und in keiner Hinsicht besser als irgendein anderer dieser Menge; und daß wir, wenn wir uns so blind und so schändlich vor allen anderen den Vorzug geben, das Vergeltungsgefühl, den Abscheu und die Verwünschungen der Menschen verdienen. Dieser unparteiische Zuschauer allein lehrt uns die wirkliche Geringfügigkeit unseres eigenen Selbst und alles dessen, was uns angeht, erkennen und nur durch das Auge dieses unparteiischen Zuschauers können die natürlichen Täuschungen der Selbstliebe richtiggestellt werden. Er zeigt uns die Schönheit des Edelmuts und die Häßlichkeit der Ungerechtigkeit; er zeigt uns, wie schön es ist, auf den größten eigenen Vorteil zu verzichten und ihn dem noch größeren Interesse anderer Menschen aufzuopfern, und wie häßlich es ist, einem anderen auch nur das geringste Unrecht zuzufügen, um dadurch für uns selbst einen Vorteil zu erlangen, und wäre dieser auch noch so groß. Es ist nicht die Liebe zu unserem Nächsten, es ist nicht die Liebe zur Menschheit, was uns in vielen Fällen zur Betätigung jener göttlichen Tugenden antreibt. Es ist eine stärkere Liebe, eine mächtigere Neigung, die in solchen Fällen im allgemeinen eingreift: die Liebe zu allem, was ehrenwert und edel ist, das Verlangen nach Größe, Würde und Erhabenheit unseres Charakters.“ (Quelle: Adam Smith, Die Ethischen Gefühle, III. Teil, 3. Kapitel, „Über den Einfluß und die Autorität des Gewissens“)
Interessant, dass diese wichtige Seite Adam Smiths komplett ausgeklammert wird, wenn Wirtschaftswissenschaftler ihn heute zitieren. Die Lieblingszitate jener Wirtschaftswissenschaftler beschränken sich in der Regel auf drei – auf den Begriff des „Egoismus“, der „unsichtbaren Hand“ und den, der „Arbeitsteilung“. Liest man in den „Ethischen Gefühlen“ wird schnell deutlich, dass der Smith`sche Egoismus-Begriff wenig mit dem unseren gemein hatte. Der Begriff der „unsichtbaren Hand“, die den freien Markt angeblich lenke und wie ein Mantra wiedergekäut wird (Adam Smith: „Wohlstand der Nationen“ ) wird von Smith nur ein einziges Mal erwähnt und zwar in einem ganz anderen Zusammenhang als den häufig zitierten:
„Nun ist aber das Volkseinkommen eines Landes immer genau so groß wie der Tauschwert des gesamten Jahresertrags … Wenn daher jeder einzelne so viel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch diese so lenkt, daß ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten läßt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, daß das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewußt das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er … dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, daß ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat … ja, gerade dadurch, daß er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun. Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan … Der einzelne vermag ganz offensichtlich aus seiner Kenntnis der örtlichen Verhältnisse weit besser zu beurteilen, als es irgendein Staatsmann oder Gesetzgeber für ihn tun kann, welcher Erwerbszweig im Lande für den Einsatz seines Kapitals geeignet ist und welcher einen Ertrag abwirft, der den höchsten Wertzuwachs verspricht.“ (Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, aus dem Englischen neu übertragen nach der fünften Auflage [1789] von Horst Claus Recktenwald, München 1974, Buch IV, Kapitel II, S. 370 f. )
Ob diese eine Stelle von 934 Seiten (Taschenbuch-Ausgabe) wirklich dazu geeignet ist, einen ganzen Mythos von einem freien Markt zu entwickeln, der sich durch eine „unsichtbare Hand“ selbst reguliert, dürfte doch eher fraglich sein. Liest man einige Artikel über Adam Smith, in denen immer wieder die gleichen Stellen zitiert werden, neigt man wirklich zu der Annahme – wie in der kürzlich erschienenen ARTE-Dokumentation über Adam Smith von Noam Chomsky behauptet, dass kaum ein Wirtschaftswissenschaftler über das erste Kapitel des „Wohlstands der Nationen“ hinausgelangt. (Adam Smith und der Freie Markt, Arte-Doku)
Ebenso wie der Begriff „der unsichtbaren Hand“ immer wieder verkürzt im Sinne der Betriebswirtschaft zitiert wird, so auch der Begriff der Arbeitsteilung. (Adam Smith, Der Segen des Egoismus / Frankfurter Allgemeine 24.08.2013 von Peter Bofinger) Smith plädiert zwar in seinem Beispiel von dem Nadler und der Stecknadelproduktion für die Effizienz der Arbeitsteilung, er ging aber davon aus, dass der Arbeiter sehr wohl in den Genuss des Mehrwerts seiner Arbeit kommt – was in den modernen westlichen Gesellschaften schon lange nicht mehr der Fall ist.
„Der Mensch braucht die Hilfe seiner Mitmenschen fast immer, und würde diese vergeblich von ihrem Wohlwollen allein erwarten. Er wird viel leichter Erfolg haben, wenn er ihre Eigenliebe zu seinen Gunsten interessieren und ihnen zeigen kann, dass es ihr eigener Vorteil ist, für ihn zu tun, was er von ihnen fordert. … Gib mir dies, was ich brauche, und Du sollst das haben, was Du brauchst – ist der Sinn jedes solchen Anerbietens und auf diese Weise erhalten wir voneinander den bei weitem größten Teil der guten Dienste, deren wir benötigt sind.“ (Zweites Kapitel, Über den Trieb, der die Teilung der Arbeit veranlasst)
Hinzu kommt, dass Smith selbst auf das Monströse der Arbeitsteilung hingewiesen haben soll: „Wer sein ganzes Leben damit zubringt, eine Handbewegung zu machen, hat keine Veranlassung seinen Verstand anzustrengen.“ (zitiert nach Noam Chomsky, ARTE-Dokumentation sowie „Paideia“ – Adam Smith und die Arbeitsteilung)
Im selben Kapital weiter unten zeigt sich deutlich Smith humanistisches Menschenbild, das von der Gleichheit aller ausgeht, die erst durch Gewohnheit und Erziehung (David Hume) in manifestierte Klassenunterschiede auseinander dividiert wird:
„Die Verschiedenheit der natürlichen Talente bei den verschiedenen Menschen ist in Wahrheit viel geringer, als wir glauben, und der sehr verschiedene Geist, welcher, wenn er zur Reife gelangt ist, Leute von verschiedenem Beruf zu unterscheiden scheint, ist in vielen Fällen nicht sowohl der Grund als die Folge der Arbeitsteilung. Die Verschiedenheit zwischen den unähnlichen Charakteren, wie z.B. zwischen einem Philosophen und einem gemeinen Lastträger, scheint nicht sowohl ihrem Wesen als der Gewöhnung und Erziehung zu entspringen. (Anm.: hier haben wir David Hume!). Als sie auf die Welt kamen, und in den ersten sechs bis acht Jahren ihres Daseins waren sie einander vielleicht sehr ähnlich, und weder ihre Eltern noch ihre Gespielen konnten eine merkliche Verschiedenheit gewahr werden. Etwa in diesem Alter oder bald darauf wurden sie zu sehr verschiedenen Beschäftigungen angehalten. Dann wird die Verschiedenheit ihrer Talente bemerkt und erweitert sich nach und nach, bis zuletzt die Eitelkeit des Philosophen kaum noch irgendeine Ähnlichkeit anzuerkennen bereit ist. … Unter den Menschen sind (…) die unähnlichsten Anlagen einander von Nutzen; indem die verschiedenen Erzeugnisse ihrer bezüglichen Talente durch den allgemeinen Hang zum Tausch und zu gegenseitiger Aushilfe in einem Gesamtvorrat vereinigt werden, woraus jedermann den Teil der Erzeugnisse der Talente anderer Menschen kaufen kann, dessen er bedarf.“ (Zweites Kapitel, Über den Trieb, der die Teilung der Arbeit veranlasst)
Wenn neoliberale Wirtschaftswissenschaftler immer wieder von den Vorzügen des freien Marktes sprechen, könnte man ihnen Adam Smith Verständnis eines humanistischen Menschenbildes entgegenhalten, dem es eben nicht um den rein monetären Eigennutz nach dem heutigen Verständnis von Egoismus im Sinne eines knallharten Wettbewerbs, Konkurrenz um jeden Preis, Reichtumsanhäufung von Einzelnen auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung ging. Der Artikel von Pierre-Christian Fink „Auf der Suche nach Adam Smith“ in der „Zeit“ vom 27.08.2013 versucht Adam Smith ins rechte Licht zu rücken. So ganz will es ihm aber auch nicht gelingen. Denn dass die von ihm und vielen anderen Smith-Autoren viel zitierte tolle Globalisierung, die viele neue Handelsbeziehungen erschloss, zu Zeiten Smith auf den Sklavenhandel basierte, verschweigt dann auch der wohl gesonnenste Smith-Rezipient. Nach der Entdeckung Amerikas beginnt die Kolonisierung der Karibik und Lateinamerikas. Die Länder werden ihres Goldes und ihrer Rohstoffe beraubt, die Einheimischen unterjocht und der Sklavenhandel blüht. Eine schöne Welt der Globalisierung und des kapitalistischen Handels beginnt. Das sind die wahren Ursprünge unserer freien Märkte, auf denen der Wohlstand des Westens und die Armut der „Dritten Welt“ beruhen – und nicht auf der magischen Wirkung der „unsichtbaren Hand“. (Adam Smith und der Freie Markt – Arte )
Unser Verständnis von Ursache und Wirkung, von der Ausbeutung der Natur und der Versachlichung tierischen Lebens resultieren aus der Sicht der wissenschaftlichen Revolution, die im 16. Jahrhundert ihren Ausgang nahm. Davor gab es mehr als 2000 Jahre lang ein anderes Verständnis von Natur und Mensch, von Geist und Körper. Die Wieder-Aneignung historischen Denkens hat den Vorteil, dass wir damit beginnen können, uns wieder als das zu betrachten, was wir sind: Auf der einen Seite individuelle endliche Wesen, an deren Ende der individuelle Tod steht. Auf der anderen Seite: Endliche Wesen, die sich in einem geschichtlichen Übergangsstadium von Vergangenheit, einer gestaltbaren Gegenwart und Zukunft befinden. Die Gegenwart ist nur ein schmaler Grat zwischen einer Vergangenheit, die uns geprägt hat und einer Zukunft, die wir so oder so prägen werden. Sie ist keine beliebig ausgedehnte Zeit, die immerwährend bleibt, wie sie ist. Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist es, uns bewusst zu machen, woher unsere Prägung, unser Denken resultieren und die Verkürzungen der angeblichen „Wahrheiten“ aufzudecken, die tagtäglich von den Politikern, den Unternehmern, Betriebswirten, den öffentlichen Medien – den Meinungsmachern und Machthabern unserer Gegenwart auf uns einprasseln und uns zu willenlos folgenden Lemmingen machen wollen. Ein neuer, postwachstumsorientierter, kritischer Sinn-Journalismus hat nicht nur die Aufgabe, neue gegenwärtige und zukünftige Geschichten von einem Bon Vivre – einem guten Umgang mit der Welt – zu erzählen, sondern auch anders über die Vergangenheit zu berichten, sie anders zu deuten, die Verkürzungen aufzudecken und sie in einen anderen Sinnzusammenhang zu bringen – eben ganzheitlich. Newton, Descartes, Smith waren vielschichtige Persönlichkeiten ihrer Zeit, denen wir in der Gegenwart die Farbe und den Sinn beraubt haben.
Quellenverzeichnis:
Videos
Kopernikanische Revolution und moderne Naturwissenschaft
http://www.youtube.com/watch?v=QJqcmSIb32k
René Descartes – cogito ergo sum ; Die Geburt der Moderne
http://www.youtube.com/watch?v=B6sljCnCsMk
Geschichte der Philosophie (8): Von der Renaissance zum neuen Weltbild, Prof. Dr. Torsten Wilholt
http://www.youtube.com/watch?v=0Yo5PNJqA_g
Adam Smith und der Freie Markt
http://info.arte.tv/de/der-kapitalismus-doku-reihe
Wendezeit von Capra (Spielfilm, 1990)
http://www.youtube.com/watch?v=45S4bNSHYDI
Bücher
Natalie Knapp
Der Quantensprung des Denkens – Was wir von der modernen Physik lernen können
rororo, 2011
Fritjof Capra
Wendezeit – Bausteine für ein neues Weltbild
Scherz-Verlag, Bern 1983
Web-Wissen
Die Renaissance – das goldene Zeitalter
http://www.planet-wissen.de/politik_geschichte/renaissance/renaissance/
Rene Descartes
http://beruehmte.info/beruhmte-und-grose-philosophen-rene-descartes-1596-1650-bekannte-philosophen/1322/
Planet Wissen: Der 30jährige Krieg
http://www.planet-wissen.de/politik_geschichte/deutsche_politik/30_jaehriger_krieg/
Tycho Brahe – Erkenntnisse für ein neues Weltbild
https://www.planet-wissen.de/natur_technik/weltall/kometen/tycho_brahe.jsp
Norbert Saul: Anmerkungen zum Dreißigjährigen Krieg
http://www.seelze.de/cms-wAssets/docs/Stadtinfo/Stadtgeschichte/menschen/30j-Krieg_Info.pdf
Adam Smith – Theorie der ethischen Gefühle (Auszüge)
http://www.inwo.ch/cms/Lesegruppe/leseabend/23-03/vorbereitung/SmithTheorieDerEthischenGefuehle.pdf
SciLogs: Anthropozän – die Diskussion: Begriffsherkunft, Weltbild, Herausforderungen
http://www.scilogs.de/der-anthropozaeniker/anthropoz-n-die-diskussion-begriffsherkunft-weltbild-herausforderungen/
Wikipedia
Galileo Galilei
http://de.wikipedia.org/wiki/Galileo_Galilei
Tycho Brahe
http://de.wikipedia.org/wiki/Tycho_Brahe
Johannes Kepler
http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Kepler
Rene Descartes
http://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Descartes
Westfälischer Frieden
http://de.wikipedia.org/wiki/Westf%C3%A4lischer_Friede
Scholastik
http://de.wikipedia.org/wiki/Scholastik