Wolf Lotter: „Zivilkapitalismus – Wir können auch anders“

Wolf Lotter „Zivilkapitalismus“ ist ein Appell an gesellschaftlich-aktive Bürger sich mehr mit Ökonomie zu befassen.

steine am meerDa wagt sich aber einer was: In einer Gegenwart, in der Kapitalismuskritik en vogue ist, preist Lotter die Vorzüge genau jener Wirtschaftsform, die doch angeblich Wurzel allen Übels ist. Lotter bedient sich dabei eines einfachen, aber sehr prägnanten Mittels. Er macht den Kapitalismus zu dem, was er eigentlich ist: ein Werkzeug in den Händen von Menschen, die ihn nach Gutdünken formen. So ist eine seiner zentralen Aussagen, dass es die Menschen sind, die eine Gesellschaft und eine Ökonomie prägen. Damit wehrt er sich gegen vor allem linke Ideologien, die seit Marx und Lenin, im Kapitalismus die Wurzel allen Übels sehen und dabei völlig übersehen, dass die real existierenden Formen von Staatssozialismus und Kommunismus nicht viel anders agierten als andere Herrschaftsformen auch: Dort wie hier gab es die Besitzstandswahrer, Bestimmer und Machtausüber auf der einen und die Befehlsempfänger, Besitzlosen und Ohnmächtigen auf der anderen Seite  – wenn auch unter anderem Vorzeichen. Worauf es Lotter ankommt, ist beim Menschen anzusetzen. Der ist es nämlich – entgegen aller Verschwörungstheorien – , der sich seine Gesellschaft schafft. Es gibt die Macher – die meistens auch über entsprechende Macht verfügen oder sie sich einfach nehmen –  und es gibt die Ohnmächtigen, die, die machen lassen und sich leider auch gern und bereitwillig, die (Eigen-)Macht aus den Händen nehmen lassen. Und genau darum geht es Lotter: an dem Verhältnis der Ohnmächtigen zu den Mächtigen etwas zu verändern und das könne nur geschehen, in dem sich der Mensch frei nach Kant aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit erhebt und sein auch wirtschaftliches Leben selbst in die Hand nimmt. So kritisiert der Autor denn auch: „Leute, die für Bürgerinitiativen sind, für regionale und lokale Teilnahme an politischen Entscheidungen, für mehr Volksabstimmungen und aktives Bürgertum, die außerhalb der eingefahrenen Strukturen und  Bürokratien für mehr Mitbestimmung kämpfen – diese Leute verweigern sich einer Annäherung an die persönliche und zivile Ökonomie, indem sie den „Kapitalismus“ und die „Wirtschaft“ und das „Kapital“ und sein „System“ samt der allgemein verorteten „Gier“ zu einem Feind erklären.“ Und fragt sich anschließend: „ Kann die Zivilgesellschaft, der große Schritt in die Emanzipation der Bürger von ihren Regierungen gelingen, wenn ihre Akteure materiell hilflos, abhängig und handlungsunfähig bleiben?“  Märkte sind für Lotter dann auch nichts anderes als Gespräche, bei denen es um Verhandlungen, nicht um Vorherrschaft geht. Und selbst die Börse sei in ihrer Ursprünglichkeit nichts anderes als ein „Reaktionsgefäß, ein Resonanzkörper“, die – in den Händen „von Unternehmern und Machern gestaltet würde“. Sie wäre „nichts anderes als eine Vermittlungsstelle zwischen Investoren und Unternehmen“, auf der man sich auf „konkrete Ziele einigen“ müsse. Heute dagegen ähnele die Börse eher einer Bühne, auf der „abartige Spielchen kauziger Finanz-Nerds“ gespielt würden.

Lotter beschreibt die Geschichte des Kapitalismus als eine, die es geschafft hat in großem Stil Fortschritt in die Welt zu bringen und Armut zu bekämpfen. Er hat Zugänge zur Bildung geschaffen und Klassenunterschiede soweit beseitigt, dass Kinder von Arbeitern studieren und Karriere machen können und er hat die Lebenserwartung durch Medizin, Technik und einen verbesserten Lebensstandard  erhöht. Etwas, das in der privilegierten westlichen Welt gern vergessen wird. Er findet es dann auch anmaßend den aufstrebenden Völkern der Schwellen- und Entwicklungsländer gegenüber zu erklären, sie mögen bitte auf Wachstum und damit auf Bekämpfung von Elend, Hunger, Krankheit und Unterdrückung verzichten. Er zitiert den Wirtschaftswissenschaftler Jagdish Bhagwati („Verteidigung der Globalisierung“). Dieser tritt für einen weltweiten Kapitalismus „als Vehikel für mehr Gerechtigkeit bei Zugängen und Verteilungen“ ein. Er richtet sich gegen jene Globalisierungsgegner aus den besseren Bildungsmilieus, die ihr „Erwachen in anderen Disziplinen als den Wirtschaftswissenschaften erleben“. „Dass sich der Kapitalismus (…) auch als ein System betrachten lässt, dass paradoxerweise Privilegien abschaffen und wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnen kann, ist eine nach wie vor unübliche Betrachtungsweise (…). Ich frage mich zum Beispiel oft, wie viele junge Kapitalismusskeptiker sich der Tatsache bewusst sind, dass eine sozialistische Planwirtschaft wie zum Beispiel Indien, in denen Märkte landesweit durch bürokratisch verwaltete Zuteilungen von Waren und Dienstleistungen ersetzt wurden, das Problem des ungleichen Zugangs zu solchen Dingen eher verschlimmerte als verbesserte. Sozialismus war nämlich gleichbedeutend mit Warteschlangen, die die gut Vernetzten und gut Ausgestatteten umgehen konnten, während die Marktwirtschaft einer größeren Zahl von Menschen den Zugang zur Supermarktkasse verschaffte.“ In Deutschland muss man gar nicht bis Indien schauen, um diesem Zitat zumindest punktuell zustimmen zu können. Es reicht ein Blick zurück vor 1989 in die planwirtschaftlich organisierte DDR und den anderen ehemals sozialistisch-geprägten Ländern Europas.

Aber Lotter geht es nicht darum anstelle dessen einem freischwebenden, zügellosen Neoliberalismus und Manchesterkapitalismus das Wort zu reden, zu denen es keinerlei Alternative gibt. Im Gegenteil. Er verlangt nicht mehr und nicht weniger, als das sich der Mensch endlich zu seiner Mündigkeit, seinem Erwachsensein und damit verbunden Freiheit, Verantwortung und Selbstständigkeit im ökonomischen, gesellschaftlichen wie im psychosozialem Sinne bekennt. Er verlangt vom Bürger damit aufzuhören immer wieder den Schuldigen im System „Kapitalismus“ und bei den Herrschenden und Reichen zu suchen, während er sich selbst wirtschaftlich unmündig und abhängig hält. Jemand, der einen Computer benutzt ohne zumindest in groben Zügen zu wissen, wie Hard- und Software funktionieren, wird bei der kleinsten Störung einen Techniker bestellen müssen. Er ist abhängig. Obwohl  die Ökonomie eines der zentralsten Themen unseres Lebens ist, weigern wir uns mit den Grundlagen unserer eigenen, privaten Ökonomie zu befassen. Lieber wählen wir weiter die ökonomische Abhängigkeit und Unmündigkeit und beschweren uns über die herrschende Klasse, die fröhlich und von Protest weitgehend unbeschadet ihre Privilegien feiert.

Der Kapitalismus hat nach Lotter kein einheitliches Gesicht,  sondern viele. Da er lediglich ein Instrument sei, wird dieses Instrument in den Ländern unterschiedlich eingesetzt. Das können wir schon allein in der EU beobachten, obwohl es das Streben neoliberaler Kräfte ist, hier ein einheitliches Gebilde zu etablieren. Und so hat der Kapitalismus auch geschichtlich seine Wandlungen erfahren. Als eigentliche Kapitalisten und Unternehmer bezeichnet Lotter Selbstständige, Klein- und Mittelständler, Familienunternehmen, die 90% aller Firmen ausmachten. Diese würden heute aber als überholtes Relikt angesehen, was ein gefährlicher Irrweg sei.   „Ihr Unternehmertum, ihre Beharrlichkeit auch gegen staatliche Begehrlichkeiten, ihre persönliche Sturheit in der Durchsetzung ihrer Ziele passt nicht zum opportunistischen Modell des modernen Managements, in dem sich das Mittelmaß zur Macht aufgeschwungen hat.“  Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts seien die großen kapitalistischen Organisationen entstanden, die man laut Lotter nur unter Vorbehalt Unternehmen nennen kann. „Die großen Aktiengesellschaften bedienten sich am Personal und der Kultur der großen staatlichen Verwaltungen in Europa und den USA. Die Entwicklung dessen, was man Management und moderne Bürokratie nennt,  verlief vollkommen verzahnt – und tut das bis heute… Machtsicherung betreibt man nicht mehr, indem man sich einer riskanten Konkurrenz mit anderen aussetzt oder durch Innovation, sondern durch die Etablierung von Monopolen, Trusts, Kartellen und Lobbys, die dafür sorgen, dass der Gesetzgeber – der als Bürokrat ohnehin dieselbe Sprache spricht – der kapitalistischen Großorganisation Privilegien erteilt oder wenigstens einen Informationsvorsprung verschafft. Machterhalt und Machtsicherung, die Politik des Status Quo und der Wahrung des Besitzstands, sind gemeinsame Merkmale “  So ähnelten auch die Struktur der Großunternehmen denen der Behörden und politischen Parteien. Der Betrieb dieser Organisationen wird legitimiert, „in dem man seine Macht verwaltet und erhält, aber nicht durch unternehmerisches Handeln, also Kapitalismus.“  Der heutige Kapitalismus bestehe nur noch aus Verwaltern: Manager und Betriebswirten und somit leitenden Angestellten und Bürokraten, die keinerlei unternehmerische Risiken und damit Verantwortung mehr auf sich nehmen würden. So haben sie auch den Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft verschlafen, der von ihnen Innovationen, eigenes Denken und neue Organisationsstrukturen abverlangen würde. Die herrschende Klasse im Sozialstaat sei der Angestellte. Das ganze System baue auf unselbstständiger Erwerbstätigkeit, in dem auch der Topmanager ähnliche Sozialschutzrechte wie die Kassiererin bei Aldi genieße. Ziel der gegenwärtigen Politik sei es demzufolge auch nicht, den Menschen zu einer guten, ihren Talenten und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeit zu verhelfen, sondern Zahler für ein überholtes Sozialsystem aus dem 19. Jahrhundert zu finden.

Was Lotter vorschwebt, ist ein neues Kapitel im Kapitalismus aufzuschlagen, in dem es um eine interaktive, kommunikative Ökonomie erwachsener, selbstbewusster Bürger geht, die ihre Dinge selbst in die Hand nehmen. In der Wissensgesellschaft, die die alte Industriegesellschaft ablöst, gehe es nicht mehr vorrangig um die Befriedigung von Massenbedürfnissen, sondern um individuelle. Es gehe um Vielfalt und Differenz, nicht um Gleichmacherei und Einheit. Er verdeutlicht das anhand der Maslow’schen Pyramide. Die Industriegesellschaft und der Massenkonsum waren nötig, um die untersten drei Stufen der Existenz zu befriedigen: Hunger, Durst, Unterkunft, Sicherheit, soziale Beziehungen. Heute nun stünden wir an der Schwelle, um die 5. Stufe der Pyramide zu befriedigen: Die Selbstverwirklichung. Im Zeitalter der Selbstverwirklichung gehe es darum zu erkennen, wer man ist und was man will. Er zitiert Mathias Horx: “Die Wissensökonomie setzt den Menschen frei –  und bürdet ihm gleichzeitig die Verantwortung für sein Leben auf, das er nun als Selbstunternehmer gestalten kann, aber auch muss. Sie setzt auf Individualität, Kreativität und die Fähigkeit lebenslang zu lernen. Sie zwingt ihn in die Emanzipation.“  So sei auch die Doktrin der Zivilgesellschaft überschaubar: Die Gesellschaft, der Staat, die Gemeinschaft haben die Aufgabe alles denk- und menschenmögliche zu tun, um ihre Bürger so selbstständig wie möglich handeln zu lassen. Dafür müssten sich allerdings Kultur, Wertesystem und Schule ändern. Der Massenkonsum  bliebe die Basis um die drei Grundbedürfnisse zu erfüllen. Darüber hinaus ginge es aber um die Erfüllung individueller Bedürfnisse, bei denen die Menschen haben wollen, was sie sich wünschen und nicht das, was der Markt ihnen bietet. In der Wissensgesellschaft gehe es um Zugänge und um Usability des Systems. Lotter spricht von einem kooperativen, barrierefreien Kapitalismus. Das System muss so gestaltet sein, dass es für alle zugänglich, verstehbar und damit benutzbar ist. Zugänge sind mehr als Teilhabe. Es verlangt den aktiven Bürger, der sein Leben und die Demokratie gestaltet. Wer bessere Produkte, bessere Unternehmen, bessere Arbeitsbedingungen haben will, der kann sie nicht an die Politik delegieren, sondern muss sich selbst darum kümmern, dass die Dinge besser werden. Persönliche Wirtschaft, Entscheidungslehre und Selbstbewusstsein wären die neuen Pflichtfelder in der Schule. Gesellschaft und Demokratie müssten nach dem Subsidaritätsprinzip gestaltet sein. Entfaltung der individuellen Fähigkeiten, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung wären die neue Maxime anstelle eines egoistischen Fürsorgeanspruchs. Das wichtigste Instrument zur Aufhebung der Klassenunterschiede sei das Wissen, auch das Wissen um ökonomische Zusammenhänge. Soziale Gemeinschaft und Markt wären ein und dasselbe. Es gehe auch nicht darum, dass jeder Mensch Unternehmer werden müsse, aber es gehe um die freie, kooperative und verantwortungsvolle Ausgestaltung von Arbeitsverträgen. Dies sei nur auf Augenhöhe möglich und nicht in Abhängigkeitsverhältnissen. Und so passten denn auch die Genossenschaften zum Zivilkapitalismus. Hier könne das Subsidaritätsprinzip gelebt werden.

An Lotters Betrachtungsweise gibt es sicher eine Menge auszusetzen. So erfahren die Herrschaftsverhältnisse, die in Form von Eigentum an Produktionsmitteln, Vererbung und Klüngelwirtschaft  die ökonomisch-soziologische Verflechtung von Macht und Ohnmacht, Herrschaft und Abhängigkeit bedingen, eine arg stiefmütterliche Behandlung. Marx würde sich bei Lotters Kapitalismusanalyse wahrscheinlich im Grab umdrehen! Betrachtet man Lotters Argumente jedoch einmal nicht unter der ideologischen Brille, wie sie heute fast jede Diskussion um Veränderung schon im Keim erstickt, dann hat dieses Buch eine so immens wichtige Botschaft wie sie derzeit vergleichbar noch Harald Welzers Buch „Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand“ bereithält. Es geht um die Errichtung einer Zivilgesellschaft von mündigen Bürgern, die sich nicht länger von Politik und einem überholten, aus den Zügeln geratenen Wirtschaftssystem die Fäden aus der Hand nehmen lassen wollen. Wie Lotter immer wieder betont, gehört zum mündigen Zivilgesellschafter auch die Aneignung und Gestaltung von Wirtschaft. Und in der Tat gibt es ja bereits theoretische und praktische Versuche eines anderen Wirtschaftens, die nicht erst den Sozialismus einführen müssen, um funktionieren zu können. Darunter die Gemeinwohlökonomie, die Genossenschaftsbewegung , Netzwerke zu Selbstverwaltung zum Beispiel in Berlin  und Nordrhein-Westphalen sowie die  solidarische Ökonomie , um nur einige Beispiele zu nennen,  die durchaus auf dem kapitalistischen Fundament errichtet werden könnten. Dazu bedarf es eines „kleinen“ evolutionären Schrittes, einem festen Willen und dem Durchsetzungsvermögen der Zivilgesellschaft. Es ist merkwürdig, wie wenig diese neuen, innovativen Ideen Eingang in die Medien und damit in die breite Öffentlichkeit finden. Dabei sind sie seit Jahren vorhanden, werden im Netz diskutiert und auf Veranstaltungen vorgestellt, die nur eine kleine Öffentlichkeit erreichen. Es ist an der Zeit, dass diese Ideen einer breiten Öffentlichkeit  zur Diskussion gestellt werden. Anstelle dieses erregten, phrasenhaften, alternativlosen Endlosgeplappers in den heutigen Polittalkshows, könnten und sollten diese neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen ideologie- und herrschaftsfrei mit gesellschaftlichen Innovatoren geführt werden. „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“