Der Handlungsspielraum Berlin ermöglicht (jungen) Menschen sich auszuprobieren – durch selbstbestimmtes Lernen – selbstständiges Denken – selbstbestimmtes Handeln und Arbeiten.
Ein Biotop experimenteller Gesellschaftsveränderung
Um neue Maßstäbe setzen zu können, müssen wir uns ausprobieren. Doch öffentlicher Raum für freie Experimente ist knapp. Er unterliegt der Geldlogik, die da heißt: Wenn ich einen Raum zur Verfügung stelle, dann will ich Gewinn erzielen – sei es in Form von Produkten oder Tätigkeiten, die sich letztendlich vermarkten lassen. Selten werden Räume zum freien Ausprobieren ohne Absicht kostenlos zur Verfügung gestellt. Der Handlungsspielraum in Neukölln macht genau dies möglich. Ein Team junger Leute hatte die Nase voll vom institutionellen Lernen, von vorgezeichneten Arbeits- und Lebenswegen, vom gewinnorientierten Denken und Handeln. Kurzerhand schufen sie 2014 einen Raum auf 77 qm in einem Hinterhof im Brennpunkt-Kiez Neukölln. Zwei helle Räume inklusive einer kleinen Küche, einer Werkstatt und der Möglichkeit sich vor der Tür zu einem Plausch in die Sonne zu setzen – laden ein über sich selbst, die Art und Weise sich Wissen anzueignen und den eigenen Arbeits- und Lebenstraum nachzudenken. Und mit dem Denken nicht genug: Wer eine Idee entwickelt hat und meint, sie mit anderen oder allein erproben zu wollen, kann dies in Absprache mit dem Team gleich hier vor Ort tun. Einzige Bedingung: Sie sollte einen persönlichen und/oder gesellschaftlichen „Mehrwert“ haben, soll heißen: Für Menschen, die einfach nur ihren Hobbies nachgehen wollen oder hier die Möglichkeit sehen, kostenfrei einen Raum zu nutzen, um kostenpflichtige Angebote anzubieten, ist der Raum nicht gedacht.
Vieles kann in den Räumen ausprobiert und weitergegeben werden. So erprobt sich eine junge Frau als Performance-Künstlerin ; ein Anderer gibt begeistert sein Wissen über Pierre Bourdieu weiter; ein Lesekreis macht sich über die „Zukunft der Bildung“ Gedanken und eine Veranstaltungsreihe beschäftigt sich mit der „Zukunft der Arbeit“. Menschen, die lieber in kreativer Atmosphäre schreiben, arbeiten und lernen als im stillen Kämmerlein zu Hause, finden hier ihren Raum. Vieles ist möglich, vieles kann ausprobiert und umgesetzt werden. Das Projekt lebt von denen, die kommen, mitmachen, ihre Ideen einbringen.
Zwei der Initiatoren habe ich bei einem Besuch des Handlungsspielraums kennengelernt. Valentin Niebler, der studierte Soziologe finanziert sich und seine Arbeit im Handlungsspielraum derzeit über eine Teilzeittätigkeit. Er unterstützt Jugendliche in Schulen darin, Motivation und Perspektiven für die eigene Lebens- und Arbeitsbiografie zu entwickeln. Eines seiner Projekte, an dem er mitgewirkt hat, sind die Lebenswege, das Jugendliche dazu motivieren soll, die Schule abzuschließen und den eigenen Lebensweg selbstverantwortlich zu gestalten. Die 25 Geschichten von Menschen, die es gewagt haben, ihren eigenen Weg zu gehen, gibt es auch gedruckt. Die Broschüre ist kostenlos im Handlungsspielraum zu erhalten. Das Projekt ist mit Hilfe vieler Unterstützer zustande gekommen und ist nicht nur für Jugendliche interessant, sondern für Menschen aller Altersgruppen, die aus einer unbefriedigenden Alltagsroutine aussteigen und die eigene Stimme finden wollen.
Joshua Conens, der ehemalige Waldorfschüler, hat bewusst auf das Abitur verzichtet und sich für den Realschulabschluss entschieden – sehr zum Ärger seiner Lehrer, die den kreativen, begabten jungen Mann bereits einer steilen Karriere folgen sahen. Joshua will sich keinem (Aus-)Bildungs- und Arbeitsdiktat unterwerfen, sondern seinen eigenen individuellen Weg gehen – unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen und Bildungsvorstellungen. Er lernt und macht das, was ihn begeistert. Und das ist eine Menge. So hat er 2011 mit Caroline Schwarz zusammen das Projekt Berufswege gestartet und einen 96minütigen Dokumentarfilm über drei Menschen gedreht, die ihr eigenes Ding gemacht haben. Auf seiner eigenen Webseite erklärt Joshua seine Beweggründe für sein Tun. Sein Hauptanliegen mündet in den Fragen: Warum bin ich auf der Welt? Was ist meine Aufgabe? Es sind Fragen, die uns ALLE angehen und Antworten, die wir ALLE brauchen, wenn wir den unbefriedigenden Weg, den Wirtschaft und Konsumgesellschaft beschritten haben, verlassen wollen. Immer mehr Menschen fallen durch die Maschen eines zügellosen Kapitalismus, der den Menschen nur noch als Verwertungsmaschine begreift, als einen, der lebt, um herzustellen, Geld zu verdienen und zu konsumieren. Wollen wir diesen Zwangskreislauf durchbrechen, braucht es Menschen wie Joshua Conens , Van Bo Le Mentzel , Heidemarie Schwermer, Ralph Felmer und Michael Bohmeyer, die den Mut haben, auszuscheren und Neues auszuprobieren – lebendige „Forschungsmodelle“, nicht irgendwo abgeschieden in Labors und hochdotiert – sondern Menschen, die ihr eigenes Leben als Forschungssubjekt und -objekt in der Wirklichkeit in die Waagschale werfen. Mutige Menschen, Vordenker und -kämpferInnen für die große Transformation, die nicht nur im nachhaltigen Konsum und Verzicht, sondern in einer völlig neuen Art des Da-SEINS münden kann und muss – wollen wir das gute Leben jenseits kapitalistischer Verwertungsszenerien finden und leben.
Für diese Experimente und das Finden neuer gesamtgesellschaftlicher Lösungsansätze braucht es FREI-RÄUME wie den Handlungsspielraum, ein Brutkasten neuer Lebens-, Arbeits- und Denkansätze. Ein Raum, der nicht nur jungen, sondern auch älteren Menschen auf der Suche nach Perspektiven Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten bieten kann. Denn auch, wenn sich der Handlungsspielraum derzeit vordergründig an junge Menschen richtet, ist er offen für Alle, die sich mit Fragen alternativer Bildungs-, Arbeits- und Lebensansätze befassen.
Im ersten Jahr wurde das Projekt vom EU-Programm „Jugend in Aktion“ unterstützt. Diese Forderung läuft zum 31. Mai 2015 aus. Den jungen Leuten ist es gelungen 60% der monatlichen Kosten durch Spenden und private Forderungen einzuwerben. Was fehlt, sind monatliche 400 EUR, um das Projekt weiter fortsetzen zu können. Das Team arbeitet auf Hochtouren an einem Finanzierungskonzept, aber verbiegen wollen sie sich dafür nicht. Das Geld soll freiwillig gegeben werden und weiterhin den freien, experimentellen Raum ermöglichen. Bedingungen, die die ideelle Konzeption beschneiden oder zu Kompromissen zwingen, werden nicht akzeptiert. Und das ist auch gut so, denn nur in einem markt- und profitunabhängigen Raum können neue Ideen entwickelt werden, die auch der Allgemeinheit zu Gute kommen und die dringend notwendigen Impulse für eine gesellschaftliche Transformation ermöglichen: Weg vom Profit- und Konsumdenken – dem HABEN, hin zur freien Entfaltung des Mensch-SEINs. Es wäre schade, wenn dieser wichtige Impuls an 400 EUR monatlich scheitern würde. Neben der finanziellen Unterstützung braucht es aber auch Menschen, die den Raum nutzen, mitgestalten und weiterentwickeln. Es liegt an uns, die Freiräume, die wir haben und die uns geboten werden, zu ergreifen, zu nutzen und weiterzuentwickeln.