Wie ein neues Schulmodell die Welt verändern könnte
Auf der Degrowth-Konferenz 2014 in Leipzig war viel Platz für innovative Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensmodelle in Theorie und Praxis. So stand auch das Schulsystem im Zentrum der Kritik und innovative Modelle, die zeigen, wie es anders gehen könnte, stellten sich vor. Kritik an unserem Schulsystem ist nichts Neues. Im Angesicht einer wachsenden Zahl von Schulverweigerern und „Schulversagern“ wird sie stetig lauter. In kaum einem anderen Land hängt eine gute Schulbildung so sehr von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Die Anfänge unseres Schulsystems reichen zurück ins 18. Jahrhundert. Dort wurde zunächst das höhere Schulwesen eingeführt, an dessen erfolgreichen Ende die Abitur-Prüfung stand (1834). Staatliches Ziel war es, sich die Loyalität der aufgestiegenen Beamtenschaft zu sichern, die „führenden“ Schichten durch staatliche Institutionen zu erzeugen und zu kontrollieren sowie den aufstrebenden Bürger die Möglichkeit zu geben in Konkurrenz zum bis dahin privilegierten Adel zu treten. Das „niedere“ Schulsystem wurde recht stiefmütterlich behandelt bis in der bürgerlichen Revolution 1848 das fortschrittliche Bürgertum für Bildungschancen auch des einfachen Volkes eintrat. Auch wenn das Schulsystem im Laufe der Geschichte verschiedene Reformen durchlaufen hat, blieben doch die Funktionen, die Schule zu erfüllen hat, gleich:
- Schulen sollen auf das private und öffentliche Leben in der Gesellschaft und auf das Erwerbsleben bezogenes Wissen und Können vermitteln. Sie sollen die Heranwach-senden darauf vorbereiten, ein Leben als Bürgerinnen und Bürger und als Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu führen.
- Schulen üben eine Selektionsfunktion aus, die das Erreichen bestimmter Qualifikationen bestätigen. Diese sind ausgerichtet an dem Bedarf der auf dem Arbeitsmarkt benötigten Qualifikationen. In dem Schulen auf diese Weise auswählen, kanalisieren sie „SchülerInnenströme“ und verweisen sie auf (hierarchisch) unterschiedliche gesellschaftliche Positionen (Allokation).
- Schulen wirken an der Weitergabe der Normen und Werte mit, die für den Erhalt und die Fortentwicklung der jeweiligen Gesellschaft tragend sind. Neben der Qualifikation für das Leben in der jeweiligen Gesellschaft und neben der Selektion und der mit ihr verbundenen Allokation leisten Bildungssysteme einen Beitrag zur Legitimation der in einer Gesellschaft vorherrschenden Wert- und Bewusstseinsstrukturen.
(Quelle: Entstehung, Struktur und Steuerung des deutschen Schulsystems )
Noch heute werden bei der Betrachtung vieler Schulgebäude Erinnerungen an Fabrik- und Bürogebäude wach und nicht an eine Institution, die junge Menschen in ihrer intellektuellen und kreativen Entwicklung fördern soll. Mit dem Beginn der Industrialisierung bedeutete Schule die Vorbereitung auf die Arbeit in Fabrikhallen und in Bürokomplexen. Schon früh sollte der junge Mensch an disziplinierte Arbeit, an Pünktlichkeit und eine streng geregelte Struktur gewöhnt werden. Im 21. Jahrhunderts bedarf es jedoch einer anderen intellektuellen und kreativen Ausrichtung, um an einer lebbaren Zukunft einer globalisierten Weltgemeinschaft aktiv mitwirken zu können. Doch die Schulreformen der letzten Jahre dienen einzig und allein den Wachstumsverfechtern, die am liebsten schon Kleinkindern den Leistungs- und Konkurrenzdruck mit auf den Weg geben würden. Nachdem die Jahre für das Erreichen des Abiturs von 9 auf 8 Jahre heruntergesetzt wurde, befinden sich Eltern, Jugendliche und Kinder im Dauer-Leistungsstress, der die betroffene Kinder und Jugendliche schon früh mit Burnout-ähnlichen Erscheinungen – wie Dauerkopfschmerzen – in Berührung bringt. Kindheit war gestern – Leistung bis zum Umfallen heute. Gefördert wird vor allem die Ausrichtung auf wirtschaftsnahe Fächer und die sogenannten MINT-Fächer – sollen sie doch auf den globalisierten Konkurrenzkampf von Morgen vorbereiten und die Kinder schon früh auf Wettbewerb um Marktanteile und schwindende Ressourcen vorbereiten. Schule heute ist vor allem eines: Die Abrichtung junger Menschen auf den Homo Oeconomicus, der möglichst wenig fragt, dafür aber viel im Sinne von Wachstum und materiellen Wohlstand leistet. Dass dabei einige auf der Strecke bleiben, wird zwar bedauert, aber als notwendig zu zahlender Preis an den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit hingenommen. Humanistische Bildung, Kreativität, Kunst, freie Talentförderung und Potenzialentfaltung scheinen in der globalisierten Wachstumswelt keine Werte an sich mehr zu sein, werden höchsten zugelassen als ausgleichende Hobbybeschäftigungen – wenn dafür die Zeit denn bleiben sollte. Dabei wäre es gerade in einer Welt wie der unseren, in der traditionelle Werte und Gemeinschaft kaum noch etwas bedeuten und das Individuum auf sich selbst als Gestalter seiner eigenen Lebenswirklichkeit zurückgeworfen ist, von allerhöchster Dringlichkeit, hier schon frühzeitig Kindern dazu zu verhelfen, für diese Anforderung gewappnet zu sein.
Ein Modell, das sich bereits seit 1990 in der Praxis übt, ist die Freie Schule Leipzig. Gegründet noch zu DDR-Zeiten als Alternative zum Schulmodell des SED-Staates, hatten die Protagonisten zu der damaligen Zeit noch wenig Gelegenheit zum Austausch mit bereits existierenden demokratischen Schulmodellen des Westens. Umso interessanter, dass trotz mangelnden Austauschs ein ähnliche Modell herausgekommen ist, wie zum Beispiel die seit über 40 Jahren bestehende amerikanische Sudbury-Schule. Die „Freie Schule Leipzig“ sieht sich selbst in der Tradition bildungsreformischer Aufklärer wie Leo Tolstoi, John Holt, Ivan Illich, Gerald Hüther und Ken Robinson. Ausgangspunkt des Modells ist die Annahme, dass jedes Kind bereits mit einer Begabung auf die Welt kommt, die gefordert werden will. In einer freien Schule geht es vorrangig um Potenzialentfaltung, darum, dass ein Kind die Möglichkeit erhält, dass, was es kann und will voll und ganz zu entfalten und für sich nutzbar zu machen. Die Definition von Erfolg unterscheidet sich so auch von der Erfolgsdefinition staatlicher Schulen. Erfolg lässt sich in der „Freien Schule“ an der Beantwortung der beiden Fragen messen: „Bist Du glücklich?“ und: „Hast du einen Platz gefunden, an dem es dir gut geht?“ Die Aufnahmekapazitäten der Schule liegen derzeit bei 170 SchülerInnen im Alter von 6 – 18 Jahren. Die Schule ist nicht an den sächsischen Lehrplan gebunden. Das dies so ist, verdankt sie der Bürgerrechtsbewegung der Wende. Die Klassen 1 bis 3 sind altersgemischt, von der Klasse 4 bis 10 gilt das Vertrauenslehrerprinzip. Das heißt die SchülerInnen wählen sich einen Mentor, der sie in ihrer persönlichen Entwicklung begleitet. Kinder lernen unterschiedlich schnell und interessieren sich in unterschiedlichen Altersphasen für bestimmte Lehrinhalte. Nirgendwo sonst in der Gesellschaft gibt es die Trennung nach Altersgruppen. Menschen lernen voneinander – egal, ob sie alt oder jung sind. Ein sprachbegabtes Kind lernt unter Umständen schon mit 4 oder 5 Jahren lesen und schreiben. Warum sollte es dann nicht im Deutschunterricht mit 7- oder 8jährigen SchülerInnen mithalten können? Vielleicht interessiert es sich erst mit 10 Jahren für Mathematik und wird erst dann damit beginnen, sich die Rechenkunst anzueignen. Die Altersmischung kann die Lernmotivation der Kinder positiv beeinflussen und beflügeln. Dass die Trennung in Altersgruppen fatal sein kann, haben auch viele Startup – Unternehmen der New Economy bewiesen. Mögen manche Ideen auch brillant gewesen sein und das fachliche Know how enorm, durchmischt mit der kristallinen Intelligenz der älteren Generation würden manche Unternehmen womöglich heute noch existieren.
Gefördert wird die Schule mit 60 % von dem, was staatlichen Schulen an Geldern zur Verfügung steht. 60 % der Eltern beziehen ALG II, 15 % der SchülerInnen haben einen Migrations-, 10 % einen sonderpädagogischen Hintergrund. Das zeigt, dass der Besuch von alternativen Schulmodellen nicht unbedingt an den materiellen und Bildungsbürger-Hintergrund der Eltern gekoppelt sein muss. Allerdings war Bildung in der DDR auch nicht an Einkommen und Bürgertum gebunden, wie es im Westen häufig der Fall ist – trotz scheinbarer Chancengleichheit.
Die Schule ist ein Modell partizipatorischer Demokratie – so, wie sie auch vom überwiegenden Teil der Postwachstumsbewegung eingefordert wird. Partizipation, Mitbestimmung, Eigen- / Gemeinschaftsverantwortung und Selbstwirksamkeit entwickelt man am besten so früh wie möglich. Sind Entdeckerfreude, Neugierde, Kreativität und Wissensdurst erst einmal aberzogen und der Mensch im Hamsterrad integriert, ist das Wieder-Aneignen eben dieser Ressourcen oft ein mühevoller Weg. Nicht umsonst stehen die Regale voll mit Lebensratgebern und boomen Beruf(ung)sfindungsseminare. In der Freien Schule bestimmen Kinder von Anfang an, was und wie sie lernen wollen. Sie bringen eigene Vorstellungen und Ideen vom Leben, Arbeiten und dem Unterricht ein. Finden sie eine Mehrheit, werden die Vorschläge übernommen. Eltern, Lehrer und SchülerInnen sind gleichberechtigte Gestalter der Schule. So bestimmen die Kinder folgerichtig auch die Auswahl der Lehrer mit. Für Lehrer bedeutet das eine neue Sicht auf ihr Rollenverständnis. Expertentum und Autorität sind nicht allein aufgrund der gesellschaftlichen Stellung und Rangfolge gegeben, sondern müssen durch die Praxis erst einmal bewiesen werden. Eine wesentliche Kompetenz, die hier gefragt ist: Emotionale Intelligenz und das Vertrauen darin, dass jeder Mensch bereits alle Ressourcen, die er für ein erfolgreiches Leben braucht, im Kern in sich trägt. Es geht um einen Dialog auf Augenhöhe und dieser beginnt bereits in der Kindheit. Augenhöhe bedeutet den Anderen in seinem Sein, in seinem Ringen um Antworten und Lösungen ernst zu nehmen und zu wissen, dass die eigenen Lösungsangebote nicht für jeden Menschen übertragbar sind. Es geht demzufolge nicht um Vorgaben, sondern um das Entwickeln kreativer Lehr- und Lernmethoden gemeinsam mit den Kindern. Der Hirnforscher Gerald Hüther betont, dass Lernen nicht so funktioniert, dass jemand einem anderen etwas beibringt. Nicht umsonst vergessen viele Menschen nach Beendigung ihrer Schulzeit den größten Teil der Lehrinhalte sofort wieder. Lehrstoff, der nicht mit der eigenen Lebens- und Wahrnehmungswirklichkeit verbunden werden kann, verpufft im Nirwana. Wieso wird dann – wider besseres Wissen – am herkömmlichen Schulmodell festgehalten? SchülerInnen lernen, wenn es für sie interessant ist. Das kann mit 6 Jahren sein, aber auch erst mit 10 Jahren. Ein Kind, das selbst entscheiden darf, wenn es welchen Inhalt lernt, wird unter Umständen doppelt so schnell lernen, als wenn es dazu in einer Phase gezwungen wird, in der andere Dinge wichtiger sind. So werden Kinder in demokratischen Schulen niemals zum Lernen gezwungen. Wenn sie spielen wollen, spielen sie. Die anwesenden Jugendlichen der Demokratischen Schule berichten dann auch selbst, dass sie Phasen hatten, in denen sie exzessiv Computerspiele spielten und sich ansonsten für recht wenig anderes interessierten. Irgendwann aber verloren sie das Interesse von selbst und begannen sich anderen Bereichen zuzuwenden. Wenn sie lernen, sind sie hochgradig motiviert. Sie entscheiden sich am Anfang des Schuljahres für einen Kurs, den sie frei wählen. Haben sie sich dafür entschieden, bleiben sie in der Regel dabei, erscheinen pünktlich zum Unterricht und lernen. Das ist für beide Seiten eine Win-Win-Situation – für Lehrer und SchülerInnen – denn der Lehrer weiß, dass er es mit hochmotivierten SchülerInnen zu tun hat, die er nicht erst zum Lernen zwingen muss.
Die Freie Schule ist kein Ort für Einzelkämpfer. Der Morgen beginnt mit den „Morgenkreisen“, in denen die SchülerInnen davon berichten, wie es ihnen gerade geht, was für sie gerade von Bedeutung ist. Die Kurse sind klein, in welchen Morgenkreis man geht, kann frei gewählt werden. Alle Bereiche und Türen stehen den Kindern jederzeit offen. Es herrscht große Transparenz – etwas, womit die Erwachsenen aufgrund ihrer anderen Sozialisation mehr Schwierigkeiten haben dürften als die Kinder. Natürlich gibt es auch hier Sympathien und Antipathien, unterschiedliche Befindlichkeiten, Vorlieben und Abneigungen. Mit den Werten Respekt, Toleranz, Empathie und Wertschätzung sollen diesen Animositäten begegnet werden. Auch in demokratischen Prozessen ist es immer wieder erneut eine Herausforderung mit dem Anderssein umzugehen, ohne den Anderen auszugrenzen, auszuschließen. Demokratie ist ein Lernprozess, ein immerwährendes Reiben von Gegensätzen und das Finden von Lösungen auf breiter Akzeptanzebene.
Die Schule endet mit der 10. Klasse. Während der gesamten Schulzeit gibt es keine Leistungskontrollen, keine Zensuren. Es gibt Briefe der Vertrauenslehrer, die den SchülerInnen in wertschätzendem, stärkenorientierten Ton bestätigen, was sie im letzten Schuljahr gelernt haben. Empfehlungen können ausgesprochen werden, sind aber kein Muss. Die meisten SchülerInnen möchten anschließend einen staatlich anerkannten Abschluss machen. An der Freien Schule endet dieser mit einem Realschulabschluss. Die Prüfungen sind extern, d.h. die SchülerInnen müssen sich gemeinsam mit ihren Lehrern auf diese Prüfungen vorbereiten. Der überwiegende Teil der SchülerInnen besteht diese Prüfungen und kann anschließend auf ein staatliches Gymnasium wechseln, um das Abitur zu erreichen. Es gibt bereits SchülerInnen, die dies getan haben und studieren. Anderen reicht das, was sie an der Freien Schule gelernt haben, um in anderen Arbeits- und Lebenszusammenhängen ihr Glück zu finden. Kinder, die aus der Freien Schule kommen, haben den staatlichen SchülerInnen gegenüber zumindest den Vorteil, dass sie in der Lage sind, selbst zu entscheiden, was, wann und wie etwas für sie gut ist. Sie haben gelernt jederzeit etwas an ihrem Lebenskonzept selbstwirksam ändern zu können, wenn es ihnen nicht mehr behagt. Ein Ergebnis, das Schule machen sollte, ist es doch die wesentliche Voraussetzung für ein selbstgestaltetes Leben in einer globalisierten (Post-)Wachstumsgesellschaft.
Eine Auswahl freier Schulmodelle:
Freie Schule Leipzig
http://www.freie-schule-leipzig.de/
Schulkonzept der Freien Schule Leipzig
http://www.freie-schule-leipzig.de/wp-content/uploads/2012/12/fsl-konzept-2014-web3.pdf
Sudbury-School
http://www.sudbury.de/
Gerald Hüthers Schulen
http://www.schule-im-aufbruch.de/
Montessori-Schule
http://www.montessori.de/